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Türkei: Unterstützung für entlassene Lehrerinnen und Lehrer

Tausende Lehrerinnen und Lehrer wurden bislang in der Türkei ohne Gründe entlassen. Sie stehen praktisch vor dem Nichts. Eine Delegation aus Gewerkschaftenaus sieben europäischen Ländern hat in Ankara ihre Solidarität gezeigt.

Plötzlich vor dem Nichts

Nach Informationen der türkischen Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen wurden seit dem Putschversuch im Sommer 2016 rund 105.000 Staatsbedienstete entlassen oder von der Arbeit suspendiert. Etwa ein Drittel davon sind Lehrerinnen und Lehrer. Die Entlassungen erfolgen ohne Vorankündigung und ohne Nennung von Gründen durch Veröffentlichung von Namenslisten auf der Internetseite der türkischen Regierung. Die betroffenen Lehrkräfte stehen plötzlich vor dem Nichts. Ihre Entlassungen kommen faktisch einem Berufsverbot gleich. Als Lehrer können sie nicht mehr arbeiten, da keine Chance besteht, eine neue Stelle im Staatsdienst zu finden. Auch Privatschulen werden vor der Einstellung entlassener Lehrkräfte gewarnt. Die Lehrerinnen und Lehrer verlieren nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Krankenversicherung und Pensionsansprüche und dürfen die Türkei nicht verlassen. Widerspruch oder Klage gegen die Entlassungen unter den Bedingungen des Ausnahmezustands, der nach dem Putschversuch verhängt wurde und weiterhin in Kraft ist, sind nicht möglich. Von den Entlassungen sind auch rund 1.500 Mitglieder und Funktionäre der Eğitim Sen betroffen, darunter  16 Vorsitzende und 103 Vorstandsmitglieder der Gewerkschaft auf nationaler und regionaler Ebene. Einer davon ist der Lehrer und Eğitim Sen Generalsekretär Mesut Firat, der seit der Flucht seiner Vorgängerin Sakine Esen Yılmaz im letzten Jahr nach Deutschland an der Spitze der Bildungsgewerkschaft steht. Statt die Gewerkschaft zu verbieten, setzt der türkische Staat offensichtlich darauf, ihre Führung und die Mitglieder einzuschüchtern und zu demoralisieren.

"Feiern Sie Sylvester?"

In vielen Schulen führt das plötzliche Fehlen von Lehrkräften zu Unterrichtsausfällen. "Solange keine neuen Lehrer eingestellt werden, findet auch kein Unterricht statt", berichtet lapidar einer der entlassenen Lehrer in Ankara. Neueinstellungen erfolgen nur schleppend, obwohl es in der Türkei rund 300.000 arbeitslose Lehrkräfte gibt. Anstelle fester Arbeitsverträge erhalten die neuen Lehrerinnen und Lehrer nur noch Fristverträge. Um sicher zu gehen, dass möglichst regimetreue Lehrkräfte eingestellt werden, müssen BewerberInnen beim Einstellungstest eine Reihe von Fragen beantworten: "Feiern Sie Sylvester?  Schauen Sie sich Fußballspiele an?  Wie haben Sie bei den Gezi-Ereignissen empfunden? Zählen Sie die Terrororganisationen auf!" Gleichzeitig werden neue Lehrpläne eingeführt, die einer Islamisierung des Unterrichts an öffentlichen Schulen Vorschub leisten. So ist es z.B. im Biologieunterricht zukünftig nicht mehr erlaubt, über die Evolutionstheorie zu informieren.

400.000 Kinder ohne Schulbildung

Verschärft wird die Situation an den Schulen durch die hohe Zahl geflüchteter Kinder, die zusätzlich zu den türkischen Kindern unterrichtet werden müssen. "Die Türkei beherbergt weltweit die größte Zahl an Flüchtlingen", erklärte Philippe Duamelle, Leiter der UNICEF-Vertretung in der Türkei. "2,8 Millionen stammen aus Syrien und weitere 300.000 aus anderen Ländern." Mit Blick auf die rund 900.000 geflüchteten Kinder und Jugendlichen besteht nach Auskunft von UNICEF die Gefahr einer verlorenen Generation. Nur etwa zehn Prozent der Kinder lebe mit ihren Familien in offiziellen Flüchtlingslagern der türkischen Regierung. Zwar stünden die türkischen Schulen geflüchteten Kindern offen, doch noch immer blieben rund 400.000 geflüchtete Kinder von Bildung ausgeschlossen, weil sie nicht zur Schule gehen können, sagte Dueamelle. "Stattdessen arbeiten viele von ihnen und tragen so zum Lebensunterhalt ihrer Familien bei." UNICEF schätzt, dass 50.000 zusätzliche Lehrkräfte benötigt werden, um allen in die Türkei geflüchteten Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Zudem finanziert UNICEF rund 13.000 syrische Lehrerinnen und Lehrer, die syrische Kinder in der Türkei unterrichten und dafür den Mindestlohn von 1.404 türkischen Lira (364 €) erhalten.

Ausnahmezustand beenden

EGBW-Präsidentin Christine Blower wies während der Pressekonferenz  zum Abschluss des Delegationsprogramms auf die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hin, die die Türkei dazu verpflichtet, allen Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Sie verurteilte die während des Ausnahmezustands erfolgten Massenentlassungen von Lehrkräften als ungerechtfertigt und völlig unverhältnismäßig und forderte deren Wiedereinstellung sowie rechtsstaatliche Möglichkeiten für die Betroffenen, gegen die Strafmaßnahmen anzugehen. Blower sicherte Eğitim Sen die internationale Solidarität der Bildungsinternationale zu. "Wir werden weiter gegen den Ausnahmezustand und die Repressionen in der Türkei protestieren und Hilfe für die Betroffenen mobilisieren", erklärte die EGBW-Präsidentin. Weltweit haben Bildungsgewerkschaften bisher 65.000 Euro zur Unterstützung der Entlassenen zusammengetragen. Die Bildungsinternationale ruft zu weiteren Spenden auf.

Keine Gesprächsbereitschaft der türkischen Regierung

Zwanzig Frauen und Männer von elf Lehrer-und Bildungsgewerkschaften aus Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Dänemark, Griechenland, Zypern und Deutschland waren auf Einladung der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen am 27./28. Februar 2017 in die türkische Hauptstadt gereist, um gegen politische Verfolgung zu protestieren und Unterstützung für die unrechtmäßig aus dem Staatsdienst entlassenen Beamtinnen und Beamten zu bekunden. Die Türkeidelegation wurde geleitet von Christine Blower, Präsidentin des EGBW, der europäischen Regionalorganisation der Bildungsinternationale und von der EGBW-Direktorin Susan Flocken. Für die GEW nahmen Süleyman Ates und Manfred Brinkmann an der Delegation teil. Zu den Gesprächspartnern in Ankara zählten neben Kolleginnen und Kollegen der Eğitim Sen und des Dachverbandes der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst, KESK, auch Vertrerinnen und Vertreter der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), des UN-Kinderhilfswerks UNICEF,  der EU-Kommission sowie der deutschen, französischen, niederländischen und dänischen Botschaft. Anfragen für Gesprächstermine mit dem türkischen Bildungsministerium und dem Arbeitsministerium blieben unbeantwortet.