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Türkei: Gewerkschaftskongress in schweren Zeiten

Im Schatten der Ereignisse von Soma, wo Mitte Mai mehr als 300 Kumpel bei einem Grubenunfall unter Tage ums Leben kamen, fand vom 19. – 23. Mai 2014 in Ankara der neunte nationale Kongress der Bildungsgewerkschaft Egitim Sen statt.

Fotos: Egitim Sen

An dem Kongress nahmen 530 Delegierte aus allen Regionen der Türkei sowie weitere Gäste aus Politik und Wissenschaft teil, darunter ehemalige Vorstandsmitglieder der Egitim Sen Vorgängerorganisation TÖB, die von der Militärführung in den achtziger Jahren verboten und deren Aktivisten inhaftiert worden waren. Eingeladen waren auch internationale Gäste von Bildungsgewerkschaften aus Frankreich, England, Holland, Dänemark, Griechenland, Iran und dem türkischen Teil Zyperns. Aus Deutschland war Süleyman Ates zum Kongress der GEW- Partnergewerkschaft in die Türkei gereist

Kritik an der AKP-Regierung

Der scheidende Egitim Sen Generalsekretär Mehmet Bozgeyik sprach zur Eröffnung des Kongresses den Familienangehörigen der verstorbenen Arbeiter sein Beileid aus und rief die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einer Schweigeminute auf. Scharf kritisierte Bozgeyik die AKP-Regierung unter Ministerpräsident Erdogan, die er für den Tod der Bergleute verantwortlich machte. Dies sein kein Unglück gewesen, sondern ein Massaker. Aus Profitgier hätte die verantwortliche Firma in Kumpanei mit den staatlichen Aufsichtsbehörden es versäumt, für die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen unter Tage zu sorgen.

Mehmet Bozgeyik, der nach zwei Amtsperioden als Egitim Sen Generalsekretär nicht erneut kandidieren kann, beklagte die zunehmende Verletzung von Grundrechten in der Türkei. Die Politik der AKP-Regierung könne nicht mehr nur als autoritär bezeichnet werden, sie nehme faschistische Züge an. Die Meinungsfreiheit wird eingeschränkt, das Demonstrationsrecht ist aufgehoben. Öffentliche Proteste werden mit Wasserwerfern und Gasbomben auf brutalste Weise verhindert. Die Medien sind weitgehend unter der Kontrolle der Regierung. Auf Anweisung des Ministerpräsidenten werden unbequeme Journalisten entlassen und verhaftet.

Gegen Islamisierung im Bildungswesen

Aktive Gewerkschaftlerinnen und Gewerkschaftler werden verfolgt und kriminalisiert. Mehmet Bozgeyik, der selbst wegen gewerkschaftlicher Aktivitäten angeklagt ist und bereits im Gefängnis saß, konnte zwar im letzten Jahr mit Hilfe internationaler Solidarität und durch öffentlichen Druck wieder frei kommen. Doch die Anklage gegen ihn besteht fort und noch immer sind mehrere Kolleginnen und Kollegen der Egitim Sen in Haft.

Bozgeyik sprach sich auch gegen die Bildungspolitik der AKP Regierung aus. Das neue Bildungsgesetz 4+4+4 verfolge das Ziel, die Türkei im Sinne Erdogans zu islamisieren und die Frauen wieder nach Hause zu schicken. Das werde die Gewerkschaft nicht hinnehmen und weiter für ein demokratisches, öffentliches Bildungswesen ohne religiöse Einflussnahme kämpfen. Dass man in diesem Kampf nicht allein stehe, hätten die Gezi-Park-Proteste gezeigt.


Friedensprozess ist ins Stocken geraten

In seiner Grußrede an die Delegierten kritisierte Lami Özgen, Vorsitzender des Dachverbands der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst (KESK), den schleppenden Friedensprozess in dem seit Jahrzehnten andauernden bewaffneten Konflikt zwischen der kurdischen PKK und der türkischen Regierung. Lami Özgan ist Lehrer und Egitim Sen Mitglied. Im Jahr 2013 war er von der AKP-Regierung als einer von 63 ‚weisen Menschen‘ aus verschiedenen Berufen und politischen Richtungen benannt worden war, um in öffentlichen Gesprächsrunden im ganzen Land den Friedensprozess zu unterstützen. Gleichzeitig wird er jedoch vom türkischen Staat wegen seiner gewerkschaftlichen Arbeit verfolgt, ist vor Gericht angeklagt und darf die Türkei nicht verlassen.

Özgen zeigte sich überzeugt, dass die türkische Gesellschaft reif sei für eine friedliche Beilegung des Kurdenkonflikts. Nun müssten jedoch endlich die rechtlichen Voraussetzungen für langfristige politische Lösungen geschaffen werden. Die Regierung Erdogan hätte dazu bisher keine nennenswerten Schritte unternommen. Das Recht auf herkunftssprachlichen Unterricht für Kinder aus kurdischen Familien ist immer noch nicht verwirklich. Auch das Schicksal der rund 17.500 Verschwundenen aus den neunziger Jahren ist nicht geklärt.

Gesetze aus der Zeit der Militärdiktatur

Die Verfassung aus der Zeit der Militärdiktatur wurde bisher nicht geändert. Wichtige Bestimmungen aus der Zeit der Militärherrschaft wie das Parteiengesetz, das Wahlgesetz, das Strafgesetz, das Gewerkschaftsgesetz und die Diskriminierung religiöser Minderheiten wie Aleviten, Jezidien und Christen bestehen weiterhin fort. Özgen betonte, dass der Gewerkschaftsbund KESK sich damit nicht abfinden und weiterhin für Vielfalt, Gleichberechtigung, Demokratie, Menschenrechte, Gewerkschafts-, Presse und Religionsfreiheit in der Türkei kämpfen werde.

Auch die internationalen Gäste erhielten Gelegenheit zu Grußbotschaften. Süleyman Ates übermittelte solidarische Grüße der GEW-Vorsitzenden Marlis Tepe und sprach dem deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck seinen Dank aus für dessen Einsatz für Rechtstaatlichkeit, Pressefreiheit und Religionsfreiheit während seines kürzlichen Staatsbesuchs in der Türkei. Den Egitim Sen Delegierten sicherte Ates auch weiterhin die Unterstützung der GEW für deren Kampf um Demokratie und Menschen- und Gewerkschaftsrechte in der Türkei zu.

Besuch einer Berufsschule in Eskisehir

Während die Delegierten am zweiten Kongresstag mit der Beratung über die zahlreichen Anträge begannen, hatten die internationalen Gäste Gelegenheit zum Besuch einer Berufsschule in Eskisehir, eine Stadt rund 150 km entfernt von Ankara, die mit einem Hochgeschwindigkeitszug in kürzester Zeit erreichbar ist. Diese Berufsschule mit etwa 5.000 Schülerinnen und Schülern sowie 350 Lehrerinnen und Lehrern befindet sich im Stadtzentrum von Eskisehir und bietet Ausbildungen in fast allen Fachberufen an. Die Schüler wechseln nach dem 8. Schuljahr für eine vierjährige Ausbildung auf die Berufsschule. Die Berufsausbildung erfolgt in Anlehnung an das deutsche duale Berufsbildungssystem mit dem Unterschied, dass die Schülerinnen und Schüler erst im letzten Ausbildungsjahr ihre praktische Ausbildung im Betrieb erhalten.

Kongress beschließt Frauenquote

Als neue Egitim Sen Generalsekretär wurde die bisherige Frauensekretärin Sakine Esen Yılmaz gewählt. Der Lehrer Kamuran Karaca aus Adana wurde zum Egitim Sen Präsidenten gewählt. Auffällig war das große Engagement von Frauen beim Egitim Sen Kongress, die bei Abstimmungen erfolgreich Mehrheiten für ihre Anträge mobilisieren konnten. Erstmalig beschloss der Kongress eine Frauenquote von mindestens vierzig Prozent für die Besetzung von Führungspositionen in der Gewerkschaft.

Weitere Beschlüsse beschäftigten sich u.a. mit der Demokratisierung des Bildungswesens, dem Recht auf herkunftssprachlichen Unterricht und der Bekämpfung der Kinderarbeit. Dazu sollen gemeinsame Aktivitäten mit der Bildungsinternationale, der niederländischen Bildungsgewerkschaft AOB und der GEW entwickelt werden, mit denen Egitim Sen bereits im letzten Jahr ein Seminar zur Kinderarbeit organisiert hatte.

Es war ein durchaus kämpferischer und inhaltreicher Gewerkschaftstag unter sehr schwierigen Bedingungen. Klar ist, dass die Kolleginnen und Kollegen der Egitim Sen auch weiterhin die Unterstützung der internationalen Gewerkschaften benötigen werden. Es ist gut, dass sie auf die GEW dabei vertrauen können.