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Lernen im Netz

Trial and error

Schon Dreijährige können mit Tablet und Smartphone umgehen, Erzieherinnen nutzen digitale Geräte ganz selbstverständlich im privaten Alltag. Sollten digitale Medien dann nicht auch in der Kita eingesetzt werden?

Heute ist bereits jeder zehnte Dreijährige in Deutschland zumindest ab und an online. Foto: imago images/Westend61

Wenn Benjamin Wockenfuß zum Workshop in Kitas geht, hört der Gründer des Medienkompetenz-Projektes DigiKids immer dieselben Fragen: Wann stören digitale Tools die Entwicklung von Kleinkindern, wann fördern sie diese? „Es kommt auf die Balance an“, antwortet Wockenfuß dann und nennt ein entscheidendes Kriterium: Was ist der Mehrwert eines „digitalen Impulses“? „Eine App für 2,99 Euro, mit der man Kreise und Quadrate in digitale Löcher ziehen kann, ist Unsinn.“ Beim Streichen über Glas fehlt das Gefühl der Kanten, beim Einsortieren von virtuellen Klötzen das Geräusch der fallenden Klötze. Ein Ausflug mit dem Tablet in den Wald dagegen, bei dem die Kids die Natur filmen, fotografieren und in der Kita daraus einen Film schneiden, lehrt sie analoge und digitale Welt zu verbinden.

Noch sind solche Lerneinheiten eine Ausnahme in den Kitas. Zwar ist digitale Medienkompetenz mittlerweile in fast allen Bundesländern in den Rahmenplänen für frühkindliche Bildung verankert. Mal mehr, wie in Bayern und Nordrhein-Westfalen, mal weniger, wie in Sachsen-Anhalt und Bremen. „Doch in vielen Einrichtungen ist digitale Bildung immer noch ein Randthema“, sagt Franziska Cohen, Erziehungswissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin (FU).

Lange galt digitale Bildung als Hype auf Tagungen und Kongressen. Müssen wir uns mal mit beschäftigen, wird schon wieder vorbeigehen. Das liege, so die Forscherin, vor allem an einer ambivalenten Einstellung gegenüber der Digitalisierung in der Gesellschaft, die sich in den Kitas widerspiegele. „Den einen gilt die Kita als Schonraum, in der die Kids vor einem digitalen Overkill geschützt werden und sich auf ‚natürliche‘ Tätigkeiten wie soziales Lernen konzentrieren sollen“, so Cohen. „Die anderen sehen die Digitalisierung nahezu euphorisch als Allheilmittel.“ Bei vielen Fachkräften produziert das Unsicherheit. Zwar nutzen sie privat digitale Medien selbstverständlich, doch beruflich fragen sie sich oft: Ist das wirklich schon was für so kleine Kinder?

„Wir dürfen das Feld nicht der Wirtschaft überlassen, sondern müssen Kinder pädagogisch auf den Umgang mit den digitalen Medien vorbereiten – unabhängig und kritisch.“ (Benjamin Wockenfuß)

Allmählich aber, so Cohen, sickere die Erkenntnis durch, dass digitale Bildung kein Modethema ist, sondern Notwendigkeit. Fortbilder Wockenfuß kann die Nachfrage kaum noch stemmen. In zwei Dutzend Kitas war er mit DigiKids, dem Modellprojekt der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen und der Techniker Krankenkasse, seit 2017 schon unterwegs. Denn immer mehr wird klar: Digitale Medien sind aus dem Alltag von Kleinkindern nicht mehr wegzudenken. Schon 2015 belegte die Studie Kinder in der Digitalen Welt des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet: Internetnutzung ist schon bei Dreijährigen omnipräsent. „Wir dürfen das Feld nicht der Wirtschaft überlassen“, fordert DigiKids-Gründer Wockenfuß, „sondern müssen Kinder pädagogisch auf den Umgang mit den digitalen Medien vorbereiten – unabhängig und kritisch.“

Das kann nur gelingen, wenn die Fachkräfte mitziehen. Doch wie genau sehen das die Erzieherinnen und Erzieher? Welche Einstellungen haben sie zur Nutzung digitaler Medien? Das wollen FU-Erziehungswissenschaftlerin Cohen und ihr Team derzeit mit einem Forschungsprojekt herausfinden. Im Januar startet sie eine Online-Umfrage unter 200 Fachkräften. Begleitend sollen 60 Erzieherinnen und Erzieher mehrere Wochen lang ihren Berufsalltag in einem Tagebuch dokumentieren und reflektieren. Cohen: „Aus den Ergebnissen der Studie soll ein Praxisleitfaden für die Kita-Arbeit entstehen.“

Tief in der Praxis steckt bereits seit September 2018 der Modellversuch Medienkompetenz in der Frühpädagogik des Bayerischen Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP). Die Wissenschaftler haben 19 Mediencoaches in 100 Modellkitas geschickt, um die Einrichtungen bei der Arbeit mit Tablets im Kita-Alltag zu begleiten. 80 Prozent der Kitas hatten damit vorab kaum Erfahrungen. Alle wurden für den Modellversuch mit Materialien ausgestattet, regelmäßig kamen Mediencoaches zum „Training on the Job“.

Ein erstes Fazit im Oktober 2019 ergab: Daumen hoch. 95 Prozent der Fachkräfte wurden fitter in der technischen Handhabung der Medien, 93 Prozent lernten neue Methoden kennen, 91 Prozent erfuhren von neuen Kreativ-Apps. Auch für Organisation, Kommunikation, Beobachtung und Dokumentation werden digitale Tools immer häufiger eingesetzt, von Krankmeldungen via WhatsApp bis zum Informationsaustausch mit Eltern via Kita-App. „Das macht den Teamalltag ruhiger“, sagt Eva Reichert-Garschhammer vom IFP und resümiert: „Die Offenheit ist spürbar gewachsen.“ Damit Kitas bundesweit von den Erfahrungen der Modellkitas profitieren, wird das IFP alle Ergebnisse und Anwendungsbeispiele nach Abschluss des Modellversuchs online stellen**.

„Kinder erst mit elf Jahren an Tablet und Smartphone zu lassen, ist genauso unsinnig, wie digitales Konsumfeuer für Zweijährige.“

Das ist dringend notwendig, denn es fehlt ebenso gut geschultes Personal wie Forschung zu geeigneten Konzepten. „Wir sind nach wie vor auf trial and error angewiesen“, sagt Forscherin Cohen. Gute Ideen gibt es: Wenn etwa Fachkräfte die Übersetzungsfunktionen des Smartphones nutzen, zeigen sie Wertschätzung für Mehrsprachigkeit. Cohen: „Die Kinder lernen, dass man digitale Medien nicht nur zur Entspannung und Unterhaltung konsumieren, sondern auch kreativ und produktiv nutzen kann, um die Welt besser zu verstehen.“ Damit das nachhaltig etwas bringt, müssten dabei die Eltern einbezogen werden, fordert GEW-Kita-Experte Björn Köhler. Gerade wenn in den Familien ein sehr unreflektierter Umgang mit digitalen Medien herrsche, sollten Pädagoginnen und Pädagogen auch Vorbild sein und zeigen: „Manchmal kann es auch ohne Smartphone gehen, ich muss nicht dauernd online sein!“

Und auch DigiKids-Experte Wockenfuß sagt: „Medienkompetente Kinder brauchen medienkompetente Erwachsene.“ Eltern also, die ihr Kind nicht mit dem Tablet im Kinderwagen ruhigstellen, sondern klare Ansagen machen und selbst souverän mit den Medien umgehen können. „Kinder erst mit elf Jahren an Tablet und Smartphone zu lassen, ist genauso unsinnig, wie digitales Konsumfeuer für Zweijährige.“