Braucht Deutschland mehr Akademikerinnen und Akademiker?
Trend zur Höherqualifizierung
Deutschland braucht in Zukunft nicht weniger, sondern mehr akademisch qualifizierte Menschen. Nur so kann der Fachkräftemangel behoben werden.
Immer mehr junge Menschen nehmen ein Hochschulstudium auf. Betrug die Studienanfängerquote in Deutschland um die Jahrtausendwende noch rund 30 Prozent eines Jahrgangs, liegt sie seit zehn Jahren stabil bei über 50 Prozent und erreicht damit knapp den Durchschnitt der in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zusammen-geschlossenen Industrie-länder.
Das Hochschulstudium ist damit zur Regelausbildung einer wachsenden Mehrheit eines Altersjahrgangs geworden. Diese Entwicklung entspricht einem globalen Trend zur Höherqualifizierung in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Offensichtlich werden die Anforderungen an berufliche Tätigkeiten immer komplexer.
Von einer „Überakademisierung“ oder gar einem „Akademisierungswahn“ sind wir weit entfernt.
Das ist anschaulich im Bildungsbereich nachzuvollziehen. Ob Grundschule oder Gymnasium – für alle Lehrämter erfolgt die Ausbildung heute in einem Universitätsstudium auf Masterniveau. Der nächste Schritt ist die in anderen Industrieländern längst etablierte, in Deutschland noch zögerliche Akademisierung der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher. Deutschland braucht in Zukunft nicht etwa weniger, sondern deutlich mehr akademisch qualifizierte Fachkräfte. Das lässt sich etwa am Fachkräftemangel ablesen, der sich auch im Bildungsbereich deutlich bemerkbar macht.
Von einer „Überakademisierung“ oder gar einem „Akademisierungswahn“ sind wir weit entfernt. Mit gerade 2 Prozent gibt es unter Hochschulabsolventinnen und -absolventen eine deutlich geringere Erwerbslosigkeit als beim Rest der Bevölkerung (6 Prozent) – und diese sinkt weiter. Deren Einkommen liegt im Durchschnitt deutlich über dem von Erwerbstätigen ohne akademischen Abschluss.
Doppelte Herausforderung für Gewerkschaften
Das heißt keineswegs, dass alle Akademikerinnen und Akademiker ausbildungsadäquat beschäftigt und bezahlt werden. Viele Arbeitgeber haben die Bologna-Reform für die Einführung von Dumpinglöhnen genutzt. Für die Gewerkschaften ergibt sich daraus eine doppelte Herausforderung: zum einen für eine Aufwertung der Bachelor- und Fachhochschulabschlüsse zu streiten, auch in den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes. Zum anderen das Recht auf ein Masterstudium nach dem Bachelor durchzusetzen – insbesondere in der Lehrkräftebildung, in der ein Abschluss auf Masterniveau zu Recht die Eintrittskarte für alle Lehrämter ist.
Bedeutet der Trend zur Höherqualifizierung, dass Industrie, Handel und Handwerk keine Auszubildenden mehr bekommen? Jahr für Jahr gehen Hunderttausende junge Menschen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz leer aus und werden im Übergangssystem geparkt. Wenn Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften in einer gemeinsamen Kraftanstrengung die Schulabbrecherquote senken, eine Ausbildungsgarantie für alle jungen Menschen schaffen und die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen verbessern würden, ließen sich auch bei einem weiteren Anstieg der Studierquote alle Ausbildungsplätze besetzen.
Chancengleichheit beim Hochschulzugang
Bund und Länder sind also gut beraten, zu einem Kurs der sozialen Öffnung der Hochschulen zurückzukehren, den die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) vor einem halben Jahrhundert angestoßen hatte. Dazu gehören ein Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung, eine Absage an Studiengebühren ohne Wenn und Aber, Chancengleichheit beim Hochschulzugang und im Studium für alle.
Eine solche Politik steht nicht im Widerspruch zur richtigen Forderung nach einer Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung – im Gegenteil. Wer sich nach der 10. Klasse nicht für eine weiterführende Schule, sondern eine Ausbildung entscheidet, muss die gleichen Aufstiegschancen haben: in der beruflichen Bildung etwa über die Aufstiegsfortbildung, auf dem zweiten oder dritten Bildungsweg an Universitäten und Fachhochschulen oder über Hybridformate wie das duale Studium. Erst dann ist eine echte Wahlfreiheit zwischen einer beruflichen und einer akademischen Ausbildung gegeben.