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Mitbestimmung in Bildungseinrichtungen

Teilhabe und Entscheidungsmacht

Schülerinnen und Schüler sollen über ihr Lernen mitbestimmen dürfen, so steht es in den Schul-gesetzen. Der Normalzustand ist das allerdings (noch) nicht. Es fehlt an verbreiteter Praxis und Zeit.

„Demokratie ist eine Herrschaftsform, eine Gesellschaftsform, eine Lebensform“, sagt Christa Schäfer (re.) vom Regionalverband Berlin-Brandenburg der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe). An Berliner Schulen organisiert Schäfer sogenannte Demokratietage. (Foto: Kay Herschelmann)

Freitag ist heute Demokratietag. Ein schöner Abschluss einer Woche, in der sich Schülerinnen und Schüler aus ganz Berlin zu einem Thema fortgebildet haben, das ihnen wichtig ist. Der Klassenrat, der jüngst als feste Diskussionsstunde ins Berliner Schulgesetz eingeführt wurde, war in den 50 Workshops mehrfach Thema. Doch auch Beteiligung und Partizipation, Kinderrechte und Kommunikation, Konfliktmoderation und Mediation standen auf dem Programm.

Nun möchte der Moderator des „Ersten Demokratietages für Berliner Schulen“ von den Kindern und Jugendlichen wissen, was ihr jüngstes schönes Erleben von Mitbestimmung und Demokratie in der Schule war. Klack, klack, klack macht es auf Tablets und Smartphones: U-18-Wahl und Schulversammlung, Projektarbeit, gutes Feedback; sogar „Meine letzte Klassenstunde“ wird aufgeführt.

Demokratie lernen

Nicht genannt werden die gesetzlich verankerten Mitbestimmungsmöglichkeiten von Klassensprechern und Schülervertretungen (SV). Warum nicht? Christa Schäfer, die den Tag organisiert hat, folgt in ihrer Antwort einem Modell des Politikdidaktikers Gerhard Himmelmann. „Demokratie ist eine Herrschaftsform, eine Gesellschaftsform, eine Lebensform“, sagt Schäfer, Vorstandsmitglied des Regionalverbandes Berlin-Brandenburg der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe).

Analog dazu finde Mitbestimmung an Schulen auf drei Ebenen statt: erstens in Schüler- und Elternvertretungen, zweitens in basisdemokratischen Mitsprachegremien wie dem Klassenrat. Und drittens in einer „Schulkultur, in der Schülerinnen und Schüler mitgestalten und Demokratie in der Praxis lernen“.

„Welches Drama wird in Deutsch gelesen, mit welchen Methoden lernen wir Mathe? Auch darüber sollten wir mitentscheiden.“ (Rufus Franzen)

Rufus Franzen ist Mitglied im Berliner Landesschülerausschuss (LSA), dem höchsten Gremium der Schülerinnen und Schüler in der Hauptstadt. Und natürlich wünscht er sich mehr Rechte für den LSA; ein Anhörungsrecht auf Senatsebene zum Beispiel. Oberstes Ziel jedoch seien Schulen, in denen jene, die sie besuchen, in ihren Klassen und Lerngruppen mitbestimmen. Die neue Schulgesetz-Regel, laut der mindestens monatlich – auf Beschluss der Schulkonferenz wöchentlich – eine Klassenratsstunde im Plan steht, zu der auf Anfrage sowohl Lehrkräfte wie auch Schulleitung erscheinen müssen, findet er gut: „Das schafft einen Raum für das Besprechen gemeinsamer Themen und Probleme. So geht niedrigschwellige Mitbestimmung.“

Themen, ergänzt er, gebe es genug: „Welches Drama wird in Deutsch gelesen, mit welchen Methoden lernen wir Mathe? Auch darüber sollten wir mitentscheiden“, findet Franzen. Das Berliner Schulgesetz sieht das übrigens auch so. Schülerinnen und Schüler seien „ihrem Alter entsprechend (...) an der Gestaltung des Unterrichts (...) zu beteiligen“, heißt es darin. Franzen: „In der Realität hängt vor allem von der Schulleitung ab, ob das gemacht wird.“

Verantwortung übernehmen

Doch geht das überhaupt, Schülerinnen und Schüler den Unterricht mitgestalten zu lassen? „Ja, das geht“, sagt Silas Schultheiß. An der Jenaplan-Schule in Jena steckt er gerade in einem mehrwöchigen Matheprojekt. Das Thema: Extremwertprobleme. „Natürlich geht es um Gleichungen, Formeln und Zahlen“, sagt der 17-Jährige, „doch wir besprechen, wie wir ein Thema angehen, ob es einen praktischen Zugang gibt und es uns zu schnell oder zu langsam geht“, erläutert er. Und auch in Fragen der Leistungsbeurteilung dürften Schülerinnen und Schüler mitbestimmen, zum Beispiel über die Kriterien, nach denen sie bewertet werden. „Meine Eltern haben extra eine Schule gesucht, in der ich mich beteiligen kann, je älter ich werde, desto besser verstehe ich, warum: Wir werden nach unserer Meinung gefragt, können Kritik äußern. So lernen wir, Verantwortung zu übernehmen. Und wir verstehen besser, was warum in den Lehrplänen steht.“

Statt in einem Klassenrat besprechen die Schülerinnen und Schüler jeden Montag in einem Morgenkreis, was ansteht. In der Oberstufe gibt es monatliche „Ansagekonferenzen“, in denen die Lehrkräfte nur zu Gast sind. Doch am wichtigsten für Demokratie findet man an der Jenaplan-Schule den Projektunterricht. Bis zu einem Drittel der Unterrichtszeit findet in mehrwöchigen, jahrgangsübergreifenden Projekten statt. Bevor eines startet, wird gefragt, wer es mit vorbereiten möchte. Über das Curriculare mitzuentscheiden, sei die „höchste Form der Mitbestimmung“, erklärt Oberstufenleiterin Helke Felgenträger: „Partizipation heißt nicht nur Teilnahme, sondern ebenso Teilhabe und Entscheidungsmacht.“

„Bei den Älteren ernten wir die Früchte, die wir im frühen Kindesalter gesät haben.“ (Helke Felgenträger)

Felgenträger, die bis Oktober die Themenleitung „Demokratie leben und Lernen“ im Programmteam der Deutschen Schulakademie innehatte, wird gern auch einmal grundsätzlich: Die Institution Schule stehe „in einem steten Widerspruch“, sagt sie. Sie solle Demokratie fördern, zugleich sei Mitsprache oft nicht gefragt: „Denken Sie an die Empfehlungen für den Übertritt nach der Grundschule, an die Notengebung.“ Kinder reagierten darauf mit sinkendem Selbstwertgefühl – und weniger Leistungsvermögen. Studien wie der Kinderrechtereport des Deutschen Kinderhilfswerks zeigten zudem: „Die übergroße Mehrheit sagt, sie werde in der Schule nicht gehört.“

Wer sich das klar mache, komme zu einer neuen Form von Unterricht, dessen Umsetzung auch Pädagoginnen und Pädagogen herausfordere: „Wir müssen lernen, Macht und Verantwortung abzugeben – obwohl wir es in der Ausbildung meist anders gelernt und selbst erfahren haben“, findet Felgenträger. Wenn es gelinge, sei das Prinzip bereits auf die Kita, die es an der Jenaplan-Schule ebenfalls gibt, zu übertragen: „Bei den Älteren ernten wir die Früchte, die wir im frühen Kindesalter gesät haben“, erzählt sie.

Bei den Beteiligungsrechten von Kindern und Jugendlichen in Schulen gibt es in Deutschland großen Nachholbedarf. Die Grundlagen von Mitbestimmung und Demokratie sollten bereits in den ersten Klassen vermittelt werden, fordern Experten. (Foto: Kay Herschelmann)

Mittel selbst verwalten

„Es heißt ja Grundschule“, befindet Arno de Vries, Leiter der Berliner Reinhard-Otto-Grundschule. Folglich müssten auch Grundlagen von Mitbestimmung und Demokratie bereits in den ersten Klassen vermittelt werden. An seiner Schule entscheiden Schülerinnen und Schüler zum Beispiel über die Gestaltung der Fassaden und des Schulhofs mit. Sie nehmen an einem „Schüler*innenhaushalt“-Projekt des Bezirks teil, in dem sie Mittel selbst verwalten dürfen. Auch die wöchentliche Klassenratsstunde bewähre sich: „Sie gibt Schülerinnen und Schülern Zeit, sich darüber zu verständigen, wie es ihnen geht, miteinander – und mit den Lehrkräften.“ Über den Klassenrat rücke auch die SV näher an die Schülerinnen und Schüler – wenn ein Thema dort besprochen und von dem Klassensprecher oder der Klassensprecherin weitergetragen wird.

„Wenn Sie mich fragen, braucht Mitbestimmung Präsenz. Und Zeit.“ (Arno de Vries)

Wer mit dem Schulleiter spricht, hört jedoch auch: Viele seiner Sätze beschreiben die Vergangenheit. In Zeiten des Distanzlernens leide der demokratische Austausch sehr, berichtet er. Schülerversammlungen, etwa für das Projekt „Schüler*innenhaushalt“, konnten zuletzt nicht stattfinden. „Online lässt sich so etwas schlecht besprechen“, sagt er. Und auch Kolleginnen und Kollegen, etwa in der gewählten erweiterten Schulleitung, seien mit all den zusätzlichen Aufgaben mehr als ausgelastet. „Wenn Sie mich fragen“, sagt de Vries, „braucht Mitbestimmung Präsenz. Und Zeit.“

Die Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler wird in den Schulgesetzen der Länder geregelt. Diese halten zum Beispiel fest, ab welcher Klasse Sprecherinnen und Sprecher gewählt werden und welche Rechte die Schülervertretung auf kommunaler und Landesebene hat. Bei einem Vergleich der Regelungen im Jahr 2019 stellte das Deutsche Kinderhilfswerk großen Nachholbedarf bei den Beteiligungsrechten fest. Gefordert wurde die verbindliche Wahl einer Klassensprecherin oder eines Klassensprechers ab der 1. Klasse sowie mindestens gleiche Beteiligungsrechte von Schüler- im Vergleich zu Elternvertretungen. In den Schulkonferenzen sollen Schülerinnen und Schüler mindestens in Drittelparität vertreten sein, ohne Vetorechte anderer Gruppen. Das ist nicht in allen Ländern so.

Auch die Rechte der Eltern regeln die Schulgesetze: etwa wie Elternvertreterinnen und -vertreter auf den einzelnen Ebenen – Klasse, Schule, Bezirk, Bundesland – gewählt werden und welche Aufgaben sie haben. In der Regel arbeiten die Landeselternbeiräte mit den zuständigen Ministerien eng zusammen. Ihre – allerdings im Föderalismus nicht gesetzlich legitimierte – Bundesvertretung ist der Bundeselternrat.

In der frühkindlichen Bildung hat der Staat keinen Bildungsauftrag. Deshalb sind die Rechte der Eltern von Kita-Kindern grundsätzlich stärker. „Die Erziehungsberechtigten sind an den Entscheidungen in wesentlichen Angelegenheiten der Erziehung, Bildung und Betreuung zu beteiligen“, so steht es im (Bundes-)Sozialgesetzbuch VIII. Die Ausgestaltung – in Elternvertretungen, -versammlungen, -beiräten, -kuratorien – regeln die Kita-Gesetze der Länder.