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AlphaDekade

Teilhabe braucht Grundbildung

Funktionaler Analphabetismus und Grundbildung dürfen keine Stiefkinder der Bildungspolitik bleiben. In der zweiten Hälfte der „Nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung“ ab 2021 müssen neue Perspektiven entwickelt werden.

Sogenannte funktionale Analphabeten, also Menschen, die nicht über ausreichende Schreib-, Lese- und Rechenkompetenzen verfügen, um in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen, brauchen ortsnahe Anlaufstellen rund um die Grundbildung. (Foto: pixabay/EvgeniT)

Funktionaler Analphabetismus und Grundbildung sind keine Trend-Themen. Dahinter versammeln sich keine Wählerstimmen, und deshalb stehen dafür auch keine Milliarden bereit. Funktionale Analphabetinnen und Analphabeten haben keine lautstarke und schlagkräftig organisierte Lobby. Der internationale Tag der Alphabetisierung am 8. September dringt außerhalb der Fachgemeinde kaum durch. Im Nationalen Bildungsbericht 2020 hat die fehlende Grundbildung noch immer kein eigenes Kapitel.

Scham und soziales Verschweigen

Dabei ist die Tatsache, dass 6,2 Millionen aller Menschen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland nicht ausreichend lesen und schreiben können, wissenschaftlich gut belegt. Rund 60 Prozent dieser Menschen stehen in einem Arbeitsverhältnis und leben in einer Familie. Sie haben dennoch deutlich weniger Kontakte, bekommen weniger Einladungen und sind überwiegend nicht in Vereine oder Organisationen eingebunden. Aus der Arbeit der Volkshochschulen wissen wir, wie wichtig den Teilnehmenden gerade auch die soziale Gruppe und der Bezug zu den Kursleitenden ist – als Ruhepunkt und auch als sozialer Schutzraum, wo doch das Handicap der fehlenden Grundbildung bzw. Literalität für die Betroffenen in der Regel in Scham und sozialem Verschweigen mündet.

Die AlphaDekade möchte diese Situation nachhaltig verbessern. Lernangebote sollen deutschlandweit besser zugänglich gemacht und die Lehrenden verstärkt in den Blick genommen und professionalisiert werden. Ein wichtiges Ziel bleibt dabei: Die ortsnahen Strukturen im Bereich der Grundbildung müssen weiter ausgebaut werden. Aktuell nehmen nur 0,7 Prozent der Betroffenen an formalen Lernkursen von Volkshochschulen und anderen Trägern teil. Nicht einmal ein Fünftel der 401 kreisfreien Städte und Landkreise betreiben ein Grundbildungszentrum, in dem Beratung und Begleitung aus einer Hand angeboten werden. Für Menschen mit geringer Literalität und damit verbundenen sozialen Ängsten ist es besonders wichtig, sich nicht immer wieder neu „erklären“ zu müssen. Eine ortsnahe Anlaufstelle für alles rund um die Grundbildung sollte deutschlandweit zum Standard werden.

Ziel sollte Verdopplung der Mittel sein

Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb kürzlich in einem Positionspapier für die zweite Halbzeit der AlphaDekade den Fokus auf die gesundheitsorientierte und die digitale Grundbildung gelegt. Die Grundbildungsprogramme müssen die gesamte Familie in den Blick nehmen und dort wirken, wo es persönliche Bedarfe gibt, unter anderem auch über eine Aktivierung der 540 Mehrgenerationenhäuser in Deutschland für einen niedrigschwelligen Einstieg zu Beratung und Förderung. Auch in der Allianz für Aus- und Weiterbildung braucht es einen neuen Fokus auf die rund 800.000 Menschen, die nicht zuletzt wegen ihrer Illiterarität noch ohne Arbeit sind.

Der Bund stellt für die AlphaDekade 2016–2026 insgesamt 180 Millionen Euro bereit und erwartet mindestens das Gleiche von den 16 Ländern. Das ist mehr als nichts, aber deutlich ausbaufähig. Für die zweite Hälfte der Dekade für Alphabetisierung sollte das Ziel eine Verdopplung der Mittel sein, denn Grundbildung ist eine lohnende Investition für die Betroffenen selbst und die Gesellschaft insgesamt. Prävention und eine nachhaltige Förderung der späten Chance dürfen dabei nicht gegeneinandergestellt werden. Beides ist wichtig.

Ernst Dieter Rossmann (Foto: Susie Knoll)