Queere Pädagog:inneninitiative #TeachOut
Queere Vielfalt sichtbar machen
Was mit einem Instagram-Post eines schwulen Lehrers begann, verbreitete sich in Windeseile. Dutzende Lehrkräfte outeten sich in der Initiative #TeachOut. Ihre Botschaft: „Wir brauchen mehr queere Sichtbarkeit in Bildungseinrichtungen“.
Anfang des Jahres, als die Welle der Berichterstattung in den Medien und im Netz das Thema Diversity mit neuer Kraft nach oben spülte, wurde Philipp Aigner hellhörig. Erst hatten sich 185 Schauspielerinnen und Schauspieler mit ihrer Initiative „Act out“ öffentlich als „lesbisch, schwul, bi, trans*, queer, inter oder non-binär“ geoutet. Dann ermutigte eine Reihe namhafter Fußballer mit der Initiative #ihrkönntaufunszählen nicht geoutete Mitspieler, ihre sexuelle Orientierung nicht länger zu verheimlichen. Schließlich erfuhr Aigner von einer weiteren Initiative: #TeachOut. Fasziniert von „dieser Welle der Gemeinschaft“ klinkte sich Philipp Aigner ein.
„Dann halte ich einen Moment inne und merke – nee, unter der Oberfläche hakt noch vieles.“ (Philipp Aigner)
Seit Mitte März ist der 37-jährige Gymnasiallehrer aus Bayern nun im Dauereinsatz. Er gehört zum Orgateam von TeachOut, das sich wenige Wochen nach dem ersten Post per Video-Konferenz zusammenschloss. Er hat Mailverteiler aufgebaut, Kontakte in Redaktionen zusammengestellt, Mustertexte für Mailings verfasst. „Dann sind wir ausgeschwärmt.“ Seit April kommen Interviewanfragen im schnellen Takt. Die häufigste Frage, die Aigner seitdem hört: Eine Initiative gegen die Diskriminierung von LSBTI* an Schulen, ist das wirklich noch nötig im Jahr 2021? „Stimmt, denke ich meist spontan, eigentlich ist doch alles super“, sagt Aigner. „Dann halte ich einen Moment inne und merke – nee, unter der Oberfläche hakt noch vieles.“
Angst vor Vorbehalten
Wie kann es sein, dass jüngst bei einer Umfrage zu LSBTI an europäischen Schulen im Rahmen des EU-Programms Erasmus+, die Aigner mit organisierte, viele Schulleitungen abwinkten: „Wir nehmen da lieber nicht teil, zu heikel“? Dass Freunde noch immer Scheu haben, Hand in Hand durch die Straßen zu schlendern. Dass er sich im Referendariat erst selbst nicht hat lösen können von der Sorge, die ihn schon sein Leben lang begleitet: Werde ich mit Vorbehalten konfrontiert, wenn ich sage, dass ich schwul bin? Erst nachdem er eine feste Vollzeitstelle an einem Gymnasium erhielt und ein Gefühl dafür entwickelte, wie Kollegium, Schülerinnen und Schüler und Eltern ticken, wagte er den Schritt. Nicht mit einem Paukenschlag, sondern indem er nebenbei von seinem Freund sprach.
Nach einigen Jahren wussten die meisten an seiner Schule, dass er mit einem Mann verheiratet ist. Und auch jetzt, wo Aigner im Bayerischen Kultusministerium arbeitet, macht er keinen Hehl aus seiner Homosexualität. „Doch auch wenn die Reaktionen meist positiv sind, bleibt immer diese kurze, besorgte Überlegung im Hirn: Welche Konsequenzen wird meine Offenheit haben?“, sagt Aigner. „Normalität ist erst erreicht, wenn diese Überlegung nicht mehr nötig ist.“
„Wir wollen queere Vielfalt im Bildungsbereich sichtbar machen und das Bildungssystem selbst diskriminierungsfreier gestalten.“ (Annika Sanner)
Genau das hat Annika Sanner vor einigen Wochen animiert, aus dem Hashtag TeachOut eine organisierte Initiative zu machen. Über Instagram schloss sich die Grundschullehrerin aus Rheinland-Pfalz mit anderen Interessierten aus dem Bildungsbereich zusammen. Es entstand eine bunte Mischung – unterschiedliche sexuelle Orientierungen, unterschiedliche Altersgruppen, Schulformen, Fachkräfte an Kitas, Beschäftigte an Hochschulen. Gemeinsam erarbeitete ein Kernteam Ziele und Forderungen: „Wir wollen queere Vielfalt im Bildungsbereich sichtbar machen und das Bildungssystem selbst diskriminierungsfreier gestalten“, erläutert Sanner.
Bei Diskriminierungen eingreifen
Mit einem Strauß von Forderungen wollen die Initiatoren den Weg dafür ebnen: Indem etwa der Schutz geschlechtlicher Vielfalt in alle Landesdiskriminierungsgesetze aufgenommen und Beschwerdestellen eingerichtet werden; indem Unterrichtsmaterialien auch queere Lebenswelten abbilden, indem sexuelle und geschlechtliche Vielfalt Pflichtthema in Studium, Aus- und Weiterbildung werden und fester Bestandteil der Bildungspläne. Sanner: „Lehrkräfte wissen noch viel zu wenig darüber wie sie Schülerinnen und Schüler beim Comingout begleiten können oder wie sie bei Diskriminierungen eingreifen sollten.“
Zudem sollte das Thema nicht Sonderaspekt einer Unterrichtseinheit zu Sexualerziehung sein, fordert Sanner, sondern ebenso selbstverständlich wie andere Lebensrealitäten auch. Warum nicht eine Matheaufgabe, in der zwei verheiratete Frauen die Finanzplanung ihres Hauses kalkulieren müssen? Warum nicht im Morgenkreis nebenbei erzählen: „Ich war mit meiner Frau wandern.“ Sanner: „Wir brauchen Role Models, die Kindern signalisieren: Das ist halt ganz normal.“
Angst vor Ausgrenzung und Mobbing
Wie sehr das wirkt, hat sie selbst erlebt. Als sie ihren Viertklässlern zum ersten Mal von ihrer Frau erzählte, wurde sie mit Fragen überschüttet: Woher wusstest du, dass du dich in eine Frau verliebt hast? Wollt ihr Kinder und wie geht das? Ein Mädchen erzählte erleichtert: „Ach, mein Onkel ist auch mit einem Mann zusammen.“ Zu Sanners Hochzeit beklebten Erstklässler Windlichter in bunten Farben, von den Eltern gab es einen Blumenstrauß.
Und doch ist Diskriminierung in der Schule noch lange nicht verschwunden. „Schwule Sau“ gehört nach wie vor zu den häufigsten Schimpfwörtern auf deutschen Schulhöfen. Kein Wunder, dass nach einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) die meisten Jugendlichen aus Angst vor Ausgrenzung und Mobbing ein Coming out in der Schule vermeiden.
Offenheit signalisieren
Bei den Lehrkräften sieht es nicht viel anders aus. Das zeigt eine Befragung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von 2017: Nur 43,5 Prozent der LSBTI-Lehrkräfte gehen an ihren Schulen offen mit ihrer sexuellen Identität um. 43,6 Prozent sprechen nicht darüber. Ein Drittel der Befragten hatte in den vergangenen zwei Jahren Diskriminierungen erlebt, neun von zehn LSBTI-feindliche Äußerungen von Schülerinnen und Schülern gehört. Signifikant seltener werden Diskriminierungserfahrungen, wenn es an der Schule eine Beschwerdestelle gibt und Vielfalt festes Thema in den Lehrplänen ist.
Wenn Bodo Busch Gespräche über Diskriminierung führt, wird der Informatiklehrer im Ruhestand von der AG LSBTI in der GEW Nordrhein-Westfalen (NRW) von Jüngeren oft gefragt: Wie war das früher eigentlich? Dann erzählt der 63-jährige von den 1980er-Jahren. „Für die Offenheit gegenüber Schwulen wurde damals sehr gekämpft, bisexuelle und Transpersonen dagegen waren noch kaum präsent.“
Die Studie „Out in Office“ des Vereins Charta der Vielfalt von 2017 bestätigt: Das Thema Bisexualität am Arbeitsplatz kam erst mit zehn Jahren Verzögerung auf, bis Transsexualität in das Bewusstsein der Öffentlichkeit trat, dauerte es weitere zehn Jahre. „Das hat gerade erst begonnen“, sagt Busch.
„Einerseits ist heute vieles sichtbarer geworden, andererseits wächst der Protest jener, die wollen, dass alles so bleibt wie es mal war.“ (Bodo Busch )
In Köln engagiert sich Busch mit Elan in der AG LSBTI. Auch heute noch bekommt er Anfragen beunruhigter Lehrkräfte: „Ich habe ein Stellenangebot an einer kirchlichen Schule – soll ich meine Orientierung verschweigen?“ „Meine Transition steht bevor, mein Schulleiter bittet mich, sie zu verschieben bis mein Praxissemester vorbei ist. Was soll ich tun?“ Busch wundert das nicht. „Einerseits ist heute vieles sichtbarer geworden, andererseits wächst der Protest jener, die wollen, dass alles so bleibt wie es mal war. Das zeigt sich zum Beispiel in der LSBTI-feindlichen #Demofüralle in Stuttgart“, sagt Busch. „Wenn man das Fenster aufmacht, weht eben Wind rein.“
Busch weiß, wie wichtig es gerade deshalb ist, auch als Institution Offenheit zu signalisieren. Seine ehemalige Schule gehörte zu einer der ersten in NRW mit dem Titel „Schule der Vielfalt“. Eine Selbstverpflichtung mit klaren Leitlinien und einem deutlichen Signal – alle sind willkommen. Busch: „Viele Eltern haben ihre Kinder deshalb bei uns angemeldet.“
Auch Annika Sanner ist zuversichtlich. Anfang März hatten sich gerade mal 30 Lehrkräfte geoutet. Stand Ende Mai waren es bereits mehr als hundert. Und mehr als 1.500 Follower, die TeachOut unterstützen.
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