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Kampagne

Tatort Schule

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs hat sowohl Opfer als auch Zeitzeuginnen und -zeugen aufgerufen, über mögliche Erfahrungen mit sexueller Gewalt aus ihrer Schulzeit zu berichten.

Mit einem Fernsehspot, Aufrufen in den sozialen Netzwerken und einer Plakatkampagne sollen Menschen erreicht werden, die in ihrer Jugend sexueller Gewalt in der Schule ausgesetzt waren. (Foto: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs)

„Werden Sie los, was Sie nicht loslässt. Erzählen Sie uns von Ihren Erfahrungen!“ Mit dieser Botschaft will die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs Menschen erreichen, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexuelle Gewalt in der Schule erlebt haben. Geplant sind ein Fernsehspot, Aufrufe in den sozialen digitalen Netzwerken und eine Plakatkampagne. Aus den Meldungen soll eine Fallstudie entstehen. Für 2022 ist ein Hearing mit Expertinnen und Experten geplant. Die Kommission wurde von der Bundesregierung vor fünf Jahren eingesetzt, um sexuelle Gewalt in verschiedenen Bereichen aufzuarbeiten, zum Beispiel in der Familie, in Sportvereinen, in Heimen, in den Kirchen oder im sozialen Umfeld. Nun geht es um den Bereich Schule.

Viele Fälle bereits verjährt

Es sei wichtig, dass sich nicht nur ehemalige Opfer melden, sondern auch Angehörige, Freunde, Lehrkräfte, Mitschülerinnen und -schüler, die sexuelle Übergriffe beobachtet hätten, sagte die Kommissionsvorsitzende Sabine Andresen bei der Vorstellung der Kampagne Ende April. Herausfinden wolle man auch, wie Opfern geholfen wurde bzw. woran Hilfe gescheitert sei. Jede Meldung werde vertraulich behandelt, sicherte Andresen zu. Der Kommission sei es wichtig, Strukturen in der Institution Schule zu benennen, die Formen von Grenzüberschreitungen und sexueller Gewalt begünstigen, um daraus präventive Maßnahmen zu entwickeln. Eine besondere Bedeutung komme hierbei der Schulsozialarbeit zu.

Laut Andresen haben sich bei der Kommission bereits mehr als 80 Betroffene von sexueller Gewalt an Schulen gemeldet; der Großteil davon Frauen. Die Altersspanne reiche bis zu den 80-Jährigen. Meist sei die Gewalt von Lehrkräften ausgegangen; etwa ein Viertel der Betroffenen habe Übergriffe von Mitschülerinnen und -schülern geschildert. Übereinstimmend werde berichtet, so Andresen, dass die Übergriffe nie im Geheimen geschehen seien. Man könne daher davon ausgehen, dass es Mitwisser gebe, die bis heute über das Gesehene schweigen. Die Schule sei für die Betroffenen von sexueller Gewalt jedoch nicht nur Tat-, sondern in vielen Fällen auch Schutzort gewesen, in denen sie Hilfe und Unterstützung erfahren hätten, betonte Andresen.

„Berichte von Opfern sind immer ein Schock sowohl für die Schule als auch für die Schulaufsicht. Der Reflex stillzuhalten, ist verständlich, aber falsch.“ (Brigitte Tilmann)

„Juristisch dürften die meisten Fälle bereits verjährt sein“, erklärte Andresens Kommissions-Kollegin, die ehemalige Präsidentin des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, Brigitte Tilmann. Gerade deshalb seien Aufklärung und Aufarbeitung wichtig. Vielen Lehrkräften, so Tilmann, fehlten die Kompetenzen, um die Signale zu erkennen, die auf sexuelle Gewalt hinweisen. „Das Zögern von Lehrkräften einzuschreiten, ist verständlich, da niemand gerne einen Kollegen oder eine Kollegin anschwärzen möchte. Deshalb braucht es institutionelle Verfahren, die es ermöglichen, sich rechtzeitig an Vertrauenspersonen zu wenden und in denen Schritte benannt werden, wie in Verdachtsfällen von den Schulverantwortlichen vorzugehen ist.“ Wichtig sei vor allem, dass die Behörden schnell aktiv werden und sich den Opfern zuwenden. „Berichte von Opfern sind immer ein Schock sowohl für die Schule als auch für die Schulaufsicht. Der Reflex stillzuhalten, ist verständlich, aber falsch.“

Tilmann schilderte anhand zweier Beispiele, wie unterschiedlich Schulen in der jüngsten Vergangenheit mit Fällen von sexueller Gewalt umgegangen sind. Die Juristin wurde 2010 zusammen mit der Rechtsanwältin Claudia Burgsmüller mit der Aufklärung des sexuellen Missbrauchs an der Odenwaldschule im hessischen Ober-Hambach beauftragt. Dort kam es durch Lehrkräfte jahrzehntelang zu sexuellen Übergriffen. Als einer der Haupttäter wird in dem Bericht Gerold Becker (1936–2010) genannt, der von 1969 bis 1985 an der Schule unterrichtete und die Schule ab 1972 auch leitete.

„Die Odenwaldschule war von der Angst um ausbleibende Schüler getrieben.“

2015 wurden Tilmann und Burgsmüller mit der Aufarbeitung eines ähnlichen Falls an der Elly-Heuss-Knapp-Schule in Darmstadt betraut, an der der Lehrer Erich Buß zwischen Anfang der 1960er- und Mitte der 1990er-Jahre mindestens 35 männliche Kinder und Jugendliche sexuell missbrauchte (die tatsächliche Zahl der Fälle dürfte nach Einschätzung von Tilmann und Burgsmüller weit höher liegen). Die 1954 gegründete Schule war bis 1984 eine Grund- und Hauptschule und ist heute eine Grundschule. Der 2005 wegen 15 Fällen verurteilte Buß verstarb 2008.

An beiden Einrichtungen habe es lange gedauert, bis Lehrkräfte, Schulleitung und Staatsanwaltschaft auf die Hinweise ehemaliger Schülerinnen und Schüler reagiert hätten, fasste Tilmann zusammen. Die Opfer hätten das als sehr belastend empfunden. Zwischen den beiden Tatorten habe es jedoch auch einen Unterschied gegeben. So sei an der privaten Internatsschule in Ober-Hambach selbst nach Bekanntwerden der Vorfälle und der öffentlichen Debatte darüber eine Abwehrhaltung von einzelnen Lehrkräften, aktiven Schülerinnen und Schülern sowie nicht von den sexuellen Übergriffen betroffenen Altschülern bemerkbar gewesen.

An der staatlichen Schule in Darmstadt seien Schulleitung, Lehrkräfte und Elternvertreter dagegen von Anfang an um Aufklärung und Transparenz bemüht gewesen. „Die Odenwaldschule war von der Angst um ausbleibende Schüler getrieben“, so Tilmann gegenüber E&W. Die Angst war begründet: 2015 beantragte die Schule Insolvenz und stellte noch im gleichen Jahr den Schulbetrieb ein.