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Täuschungsversuche: Behinderte - Politik manipuliert UN-Konvention

Genau zwei Jahre – von Dezember 2006 bis Dezember 2008 – hat es in Deutschland gedauert, bis die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen alle parlamentarischen Hürden für die Ratifizierung genommen hat. Warum dauerte der Prozess so lange?

Fakt ist: Besonders brisante völkerrechtliche Forderungen an das deutsche Bildungssystem in Artikel 24 sind im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens von der Politik bis zur Unkenntlichkeit manipuliert worden. Und nicht nur das: Die Mehrheit des Bundestages hat sich dem Urteil der Bundesregierung angeschlossen, in dem diese „vielfältige Übereinstimmungen“ zwischen den deutschen Schulverhältnissen und den Zielen der UN-Konvention über die Rechte Behinderter feststellt. Politisch wird damit die Unvereinbarkeit des deutschen ausgrenzenden Regel- und Sonderschulsystems mit dem Anspruch der UN-Konvention, junge Menschen mit Behinderungen in einem allgemeinen und inklusiven Schulsystem zu unterrichten, schlichtweg geleugnet.

Länder verstoßen gegen Leitprinzip

In der Praxis verstoßen alle Bundesländer gegen das Leitprinzip der Inklusion, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Die Idee der Inklusion (lat. inclusio – Einschluss, Dazugehörigkeit)* ist genauso wenig mit stigmatisierender Etikettierung und (Zwangs-)Überweisungen zur Sonderschule kompatibel wie mit früher Auslese der Kinder und deren Verteilung auf unterschiedlich anspruchsvolle Bildungsgänge. Doch trotz eklatanter Bildungsungerechtigkeit und schlechter Leistungsergebnisse unseres Schulsystems (PISA-Studien!) hält die Kultusministerkonferenz (KMK) an dem Mythos einer leistungsgerechten Differenzierung fest.

Unlauterer Weg

Um aus dem Dilemma völkerrechtlichen Anspruchs und deutscher Kleinstaaterei herauszukommen, musste die Bundesregierung nach einem Weg suchen, der die notwendige Zustimmung der KMK und der Länder im Bundesrat zur Ratifizierung der UN-Konvention ermöglicht. Und das geschah so: Das federführende Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) entschärfte mit einem Übersetzungstrick den Forderungsgehalt der Konvention. So hat man den englischen Begriff „inclusion“ in Deutsch einfach kühn mit „Integration“ übersetzt. Damit versuchen Bund und Länder, die Konvention an die deutschen Schulverhältnisse anzupassen. Das ist nicht nur pure Trickserei, sondern auch unlauter. Denn nach KMK-Statistik werden lediglich rund 15 Prozent der Kinder mit Behinderungen in das Regelschulsystem integriert.

Empörung und Kritik gegen solche „Verfälschung“ der UN-Konvention von Behindertenorganisationen, behindertenpolitischen Sprechern aller Bundestagsfraktionen sowie der Bundesbehindertenbeauftragten Karin Evers-Meyer (SPD) blieben bislang wirkungslos. Der Gegendruck aus der KMK war um etliches größer.

Durch den „Übersetzungsfehler“ können Schulministerien (noch) weiterhin behaupten, man sei in Deutschland auf einem guten Weg, ohne dass sie strukturelle Schulreformen vornehmen müssen. Die folgende Verlautbarung aus dem nordrhein-westfälischen Schulministerium zu den politischen Konsequenzen aus der Ratifizierung ist dafür symptomatisch: „Wir sind der Überzeugung, dass mehr Integration in allgemeinen Schulen möglich ist. Deutschland hat allerdings eine Tradition darin, Menschen mit Behinderungen eine gesellschaftliche Teilhabe und Zugang zu Bildung durch personalintensive Förderung in Förderschulen zu ermöglichen. Die Vielfalt der Organisationsformen und die Pluralität der Förderorte sind eine Bereicherung. Nicht alle Eltern wollen für ihre Kinder eine Förderung in allgemeinen Schulen und fachlich kann der Besuch einer Förderschule ebenfalls im Einzelfall sinnvoller sein – zum Beispiel, weil dort eine Förderung in kleineren Gruppen möglich ist.“

Dennoch: Die trickreichen Winkelzüge der Politik sind durchschaut. Die kritische Öffentlichkeit lässt sich nicht an der Nase herumführen. Mehrere Spitzenverbände haben die Bundesregierung aufgefordert, das uneingeschränkte Recht jedes behinderten Kindes auf den Besuch einer wohnortnahen Regelschule in den Ländern endlich umzusetzen.

Mit dem Manifest „Inklusive Bildung - Jetzt“ fordern u.a. Elterninitiativen in der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“, der deutsche Behindertenrat, die Bundesbehindertenbeauftragte sowie die GEW eine „grundlegende Neuorientierung der Bildungspolitik in Deutschland“. Strukturfragen sollten kein Tabu mehr sein. 2009 besteht die Chance, gemeinsam gegen alle Täuschungsversuche der Politik ein wirksames zivilgesellschaftliches Bündnis pro Inklusion zu schließen.