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Tabellenzauber

Die öffentliche Rezeption der PISA-Studie gleicht der Reaktion auf Bundesligatabellen oder olympische Medaillenspiegel. Das Hauptproblem des deutschen Bildungssystems wird indes kaum angegangen.

Die PISA-Studien wollen eine Systemanalyse nationaler Bildungssysteme – und damit Anreize für das bildungspolitische Handeln – liefern. Hochkompetente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler füllen hunderte Seiten mit Daten, Analysen und (vermeintlichen) Zusammenhängen. Die öffentliche Rezeption gleicht allerdings oft der Reaktion auf Bundesligatabellen oder olympische Medaillenspiegel – so liest man: "Korea verliert zwei Plätze!", "Singapur – Aufsteiger der diesjährigen Runde!", "Deutschland hält sich im oberen Mittelfeld!", "In Deutschland fehlen die Spitzenschüler!"

Das Kardinalproblem des deutschen Bildungssystems – dass der Bildungserfolg der Kinder eng an die soziale Herkunft gekoppelt ist – wird indes kaum angegangen. Die GEW fordert in diesem Zusammenhang schon lange tiefgreifende Strukturreformen und verlangt, Schulen bei der Entwicklung von Unterrichtskonzepten für heterogene Lerngruppen zu unterstützen. Die Bildungspolitiker begnügen sich aber im Wesentlichen damit, die Zahl der Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss zu verringern. Hauptsache, die Gesamtbilanz stimmt. Die Lernbiografie einzelner Jugendlicher blendet Politik oft aus.

Bei konservativen Bildungspolitikern spielt das Problem der Bildungsbenachteiligung gar keine Rolle. Diese hoffen, "Plätze in den verschiedenen Schülermeisterschaften" gut zu machen, indem sie die Grundschulempfehlung wieder verbindlich einführen, alle, die schlecht lernen, in PISA-ferne Förderschulen abschieben und das angeblich so fatale "Schreiben nach Gehör" in der Grundschule verbieten. Den "Medaillenspiegel" möchte Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) durch ein Bund-Länder-Programm für Hochbegabte verbessern.

Massive private Bildungsinvestitionen etwa in Singapur

Bei aller Kritik an den Studien der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, darf man doch annehmen, dass solche Schlussfolgerungen von den PISA-Machern nicht beabsichtigt sind. Im Gegenteil: Immer wieder betonen diese, dass die frühe Selektion von Schülerinnen und Schülern in unterschiedliche Bildungsgänge die soziale Benachteiligung verstärke und das allgemeine Bildungsniveau senke.

Wie lassen sich dann aber die immer gleichen, ermüdenden Reaktionen konservativer Kreise auf die PISA-Befunde erklären? Zum Teil werden diese vermutlich durch die widersprüchlichen Ergebnisse und Analysen der Untersuchung begünstigt. So ist etwa kaum nachzuvollziehen, warum ausgerechnet autoritäre Schulsysteme asiatischer PISA-Spitzenländer kreatives Denken fördern sollen. Hinzu kommt, dass die massiven privaten Bildungsinvestitionen, etwa in Singapur, bei der Diskussion der Testergebnisse gerne übergangen werden. Der PISA-Chef der OECD, Andreas Schleicher, fordert zwar öffentlich, dass Deutschland mehr in sein Bildungssystem investieren soll, sagt aber an anderer Stelle: "Mehr Geld für die Bildung bringt nicht unbedingt mehr Qualität." Was denn nun?

Angesichts einer kaum zu überschauenden Datenmenge, widersprüchlicher Botschaften und eines starken bildungspolitischen Beharrungsvermögens mit Blick auf überholte Unterrichtskonzepte und Schulstrukturen in Deutschland wird aus den PISA-Punkten oft gerne das herausgelesen, was man schon immer wusste. Welche Innovationskraft können internationale Schulleistungsvergleiche dann noch entfalten?

Für die GEW lässt sich aus den sehr unterschiedlichen Reaktionen auf den PISA-Tabellenzauber nur eines schlussfolgern: Sie muss ihren umfassenden Bildungsbegriff, der auf die diskriminierungsfreie Teilhabe aller Kinder und Jugendlicher an Bildung, auf demokratisch-selbstbestimmte Lernprozesse setzt und soziale Benachteiligung überwinden will, politisch nach vorne bringen. Dazu gehört auch, mit der Initiative "Bildung. Weiter denken!" Druck zu machen, damit Politik mehr Geld für Bildung bereitstellt. Denn: Für die GEW ist Bildung ein Menschenrecht. Kein Training für Schulleistungsolympiaden.