Lärm in Bildungseinrichtungen
Stressfaktor Lärm
Im alten Backsteingebäude war die Akustik miserabel: Beim Neubau legte die Kerschensteinerschule in Wiesbaden viel Wert auf Lärmschutz. Das hat sich gelohnt. Das gesamte Lernklima hat sich verbessert – für Schülerinnen und Schüler wie für Lehrkräfte.
Die Kopfschmerzen sind weg. Und er ist nach sechs Stunden Unterricht nicht mehr völlig erschöpft. Mit dem Umzug aus dem alten Backsteingebäude in den Neubau habe sich das gesamte Lernklima verändert, sagt Berufsschullehrer Chris Hahn von der Kerschensteinerschule. „Die Schülerinnen und Schüler sind ruhiger. Das Unterrichten ist viel angenehmer.“ Der Lehrer schließt die Tür des Klassenzimmers – und klatscht in die Hände. Zu hören ist ein kurzes Klatschen, danach Stille. Die Akustikplatten an der Decke schlucken den Schall, die Fenster sind dreifach verglast. Hahn zeigt nach draußen: Auf der Straße fährt ein Auto vorbei, zu hören ist davon nichts.
„Die Akustik ist ideal“, sagt der 56-Jährige, der zugleich GEW-Vorsitzender in Wiesbaden ist. „So wie ich es mir erträumt habe.“ Viele Kolleginnen und Kollegen hätten Probleme mit den Stimmbändern. In dem modernen Gebäude könnten sie jetzt ihre Stimme schonen, weil sie nicht permanent gegen den Schall ansprechen müssten. Das war früher im roten Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert anders: Wenn ein Schüler in seinem Rucksack kramte oder auf dem Stuhl herumzappelte, breitete sich direkt Unruhe aus. Immer wieder musste der Lehrer die Klasse ermahnen, doch bitte etwas leiser zu sein. „Der Lärm war ein ständiger Störfaktor“, so Hahn. „Es war unerträglich.“
Marion Vittinghoff (55), Schulsozialarbeiterin an der Katholischen Hauptschule Neuwerk in Mönchengladbach
„Wenn es im Klassenzimmer extrem laut ist und zudem hallt, ist das sehr anstrengend – für alle im Raum. Lehrerzimmer haben oft keinen Schallschutz, so dass man auch hier keinen ruhigen Moment hat. Mir gelingt es häufig, Geräusche auszublenden, aber ich merke trotzdem, dass Lärm das Immunsystem schwächt. Ich bin erschöpfter, wenn ich nach Hause komme, und brauche Ruhe. Schon Musik oder Radio mag ich dann nicht mehr hören. Manchmal habe ich Kopfschmerzen. Ich kenne Kolleginnen und Kollegen, die wegen des Lärms häufiger krank sind: Ihre Stimme ist stark belastet, manche haben Ohrgeräusche, schlimmstenfalls Tinnitus. Einige suchen sich in der Schule ruhige Ecken, sind dann dort aber allein. Um den Lärm auszugleichen, mache ich in der Freizeit ruhige Sachen: Yoga, Spazierengehen oder Lesen. Ich wünsche mir, dass Schulen stärker auf Lärmschutz geprüft werden, und dieser konsequent zum Schutz aller umgesetzt wird. Auch die Kinder und Jugendlichen leiden ja und können nicht gut lernen.“
Bis zu 100 Dezibel
Bundesweit stellt Lärm an Schulen eine enorme Belastung dar. In einer Studie der GEW Niedersachsen erklärten vier von fünf Lehrkräften, Lärm als großen Stressfaktor zu empfinden. Auch Hessens GEW-Landesvorsitzende Maike Wiedwald berichtet, dass in Überlastungsanzeigen immer wieder Lärm an oberster Stelle genannt wird. „Und zwar sowohl aufgrund der Räumlichkeiten als auch wegen zu großer Klassen.“ Viele Lehrkräfte seien nach dem Unterricht am Ende ihrer Kräfte. Kein Wunder: Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hat in Klassenzimmern eine Lautstärke von 60 bis 80 Dezibel gemessen. Zum Vergleich: Das ist fast so laut, als führe ein Lastwagen vorbei. In Sporthallen werden sogar bis zu 100 Dezibel erreicht, ähnlich wie in einer Disko.
Der Leiter des Instituts für Lehrergesundheit in Mainz, Stephan Letzel, erklärt, dass im Besonderen lange Nachhallzeiten für ungünstige Akustik sorgen können. Der Lehrer sei schlechter zu verstehen – und rede lauter, die Schüler ebenfalls. „Zum Schluss sind alle psychisch angestrengt.“ Zu den Folgen von Lärm gebe es massenhaft Literatur, sagt Ingenieur Peter Hammelbacher, Mitglied im Arbeitskreis „Lärm in Bildungsstätten“ der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) bei der BAuA. „Wissenschaftlich ist das Problem niet- und nagelfest.“ Trotzdem sei die Akustik in den allermeisten Schulen miserabel. Darunter litten vor allem Schülerinnen und Schüler, deren Muttersprache nicht Deutsch sei, und jene mit Lernstörungen bzw. ADHS.
Doch selbst bei Sanierungen oder Neubauten werde oft die Chance vertan, etwas dagegen zu tun. Ein Grund sei fehlendes Problembewusstsein. Dass es in der Kirche hallt, sei für die Menschen völlig normal. Ähnlich sei es mit Schulen, meint Hammelbacher: „Lehrkräfte denken, das muss so sein. Sie kennen es nicht anders.“ Mehr noch: Einige trauten sich gar nicht, das Problem anzusprechen – aus Angst, es könnte als ihr eigenes Unvermögen angesehen werden, für Ruhe im Klassenzimmer zu sorgen. Doch langsam setze sich die Erkenntnis durch: „Es geht auch anders.“ Allerdings hapert es oft am Geld. Etliche Schulgebäude müssten dringend saniert werden, sagt Wiedwald. „Lehrkräfte sagen deutlich, dass sie unter Lärm leiden. Das heißt aber nicht, dass auch etwas passiert. Das ist sehr frustrierend.“
Philipp Einfalt (48), Sonderschullehrer an der Erich Kästner Schule mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung in Krefeld (derzeit freigestellt) und Personalrat bei der Bezirksregierung Düsseldorf
„In der Förderschule geht es oft hoch her: Wenn die Kinder durcheinander brüllen, sich streiten und prügeln, dann ist die Lärmbelastung schon extrem. Bei schwierigen Schülern ist ein strukturierter Tagesablauf das A und O, gerät da etwas durcheinander, bringt das eine Wahnsinnsunruhe. Das zerrt an den Nerven. Ich habe schon Kollegen weinen sehen. Laute Kinder sind aber nur ein Teil des Problems: In den meisten Gebäuden gibt es keinen Lärmschutz, gerade in älteren Schulen ist die Lage desolat. Da müssen die Träger dringend nachsteuern. In jedem produzierenden Betrieb gibt es Lärmschutz, nur in Schulen wird das Problem unterschätzt. Viele Lehrkräfte kommen zu mir und sagen: ‚Es macht mich krank.‘ Die Zahl der Tinnitus-Fälle ist in meiner Wahrnehmung massiv gestiegen. Die Lehrkräfte können ja schlecht mit Ohrschützern herumlaufen. Zwar wird inzwischen mehr für ihren Gesundheitsschutz getan, aber vieles kommt zu spät und reicht nicht aus.“
Direkter Vergleich
Auch die Kerschensteinerschule musste lange auf den Neubau warten. Schon seit den 1970er-Jahren sei versprochen worden, dass die Außenstelle im Wiesbadener Stadtteil Schierstein geschlossen wird. „Zum Schluss hat es über 30 Jahre dauert“, sagt Hahn. So lange nähten die Lehrkräfte gemeinsam Vorhänge für die Fenster, um den Lärm etwas zu mindern. Als die Schülerinnen und Schüler 2009 endlich in den Neubau zogen, war die Freude groß. „Sie fühlten sich wie die Könige.“ Noch Jahre später sieht der dreistöckige Bau aus wie neu. Die Betonwände sind sauber, die Holztische nicht bekritzelt.
Die Lehrkräfte haben in der Schule den direkten Vergleich. „So, wie es sein sollte“, sagt der Pädagoge, „und so, wie es nicht sein sollte.“ Hahn tritt durch die Glastür, die den Neubau mit dem Altbau verbindet. In dem Betongebäude aus den 1950er-Jahren hallen seine Schritte laut auf den Fliesen, seine Stimme dröhnt durch den Flur. Der Lehrer öffnet die Tür zu einem Klassenzimmer. „Hier ist es schon anstrengender zu unterrichten.“ Dabei hat die Schule versucht, die Akustik in dem Gebäude etwas zu verbessern. Der Hausmeister hat im Baumarkt Korkplatten gekauft und an die Wände geschraubt, außerdem Schallschutzplatten an die Decken montiert. Zudem hängen an den Fenstern gestreifte Vorhänge aus schwerem Stoff, die Lärm verringern und Hitze fernhalten sollen. „Das hat einen Effekt gebracht“, sagt Schulleiter Peter Binstadt, „immerhin.“
Johannes Thewes (17), 12. Klasse, Gymnasium St. Kaspar in Bad Driburg-Neuenheerse, Nordrhein-Westfalen
„Alle freuen sich zwar immer auf Gruppenarbeit. Gerade dann wird es aber auch oft laut. Das macht es schon schwierig, sich zu konzentrieren. Rückblickend würde ich sagen, dass es in der 5. und 6. Klasse noch recht leise war – alles war neu, alle waren zurückhaltend. Der Lärm ging erst so ab der 7. Klasse los, da wurde das Mitteilungsbedürfnis bei einigen größer. Manchmal hat mich das extrem gestört. Es war zum Beispiel schwierig, sich bei so vielen Nebengeräuschen auf einen Text zu fokussieren. Bei Gruppenarbeit habe ich mich dann mit Leuten zusammengesetzt, von denen ich wusste, dass wir gut arbeiten können. In der Pause kann man bei uns auch mal Ruhe haben und abschalten: Wir haben zwei Pausenhöfe, alles ist sehr weitläufig. Ab der Oberstufe hat der Lärm meiner Wahrnehmung nach auch wieder abgenommen. Jeder hat das Ziel Abitur und weiß: Der Stoff ist jetzt wichtig. Mein Gymnasium ist zudem klein, unser Rektor kennt uns alle mit Namen. Da erlaubt man sich gewisse Sachen auch gar nicht.“
Schulträger in der Pflicht
Ein Blick in Raum 103 zeigt, was möglich wäre: Das Klassenzimmer wurde nachträglich professionell mit Lärmschutz ausgestattet. Statt mit PVC ist der Boden mit Teppich ausgelegt, an den Wänden hängen Absorberplatten, an der Decke wurde fachgerecht Akustikmaterial angebracht. Auslöser für die Sanierung war ein hörgeschädigter Schüler. Der Junge konnte keinen Nachhall ertragen und verstand in normalen Klassenzimmern kein Wort. Der Schulträger habe 30.000 Euro zur Verfügung gestellt, um drei Klassenzimmer mit optimalem Lärmschutz ausrüsten, berichtet der Schulleiter. Aus dem Etat für Inklusion. „Für uns war das ein besonderes Glück.“
Jedes Geräusch in dem Klassenzimmer klingt leise und gedämpft. „Ein krasser Unterschied“, sagt Hahn. Am Anfang fühlten sich viele Lehrkräfte in dem Raum unwohl. So still ist es. „Sie sind Nachhallzeiten gewohnt“, erklärt der Schulleiter. „Aber nach einer Weile finden sie es ganz prima.“ Das Beispiel zeigt nach Ansicht von Hahn, dass es gar nicht das volle Programm mit Teppich & Co. braucht: Eine professionelle Lärmschutzdecke in jedem Klassenzimmer würde die Kolleginnen und Kollegen schon sehr glücklich machen, meint der Berufsschullehrer.
GEW-Landesvorsitzende Wiedwald sieht die Schulträger in der Pflicht: „Sie müssen sicherstellen, dass alle in Ruhe lernen können.“ Sicherheitsingenieur Klaus Schöne vom Institut für Lehrergesundheit verweist auf den Arbeitsschutz: Es sei gemeinsame Aufgabe der Schulleitungen und Schulträger, regelmäßig Gefährdungsbeurteilungen vor Ort durchzuführen. Eine ungünstige Akustik könne etwa durch Messungen der Nachhallzeiten nachgewiesen werden. „Werden die Grenzwerte nicht eingehalten, ist der Träger in der Pflicht, nachzubessern.“ Der Institutsleiter führt an, dass neben technischen Maßnahmen auch organisatorische und pädagogische Schritte sinnvoll seien. So zeigten Lärmampeln an, wenn es zu laut sei. Oder Schulen könnten Ruhebereiche für Lehrkräfte einrichten. Auch das zusätzliche Anbringen akustisch wirksamer Deckensegel und Pinnwände bringe etwas Linderung, fügt Schöne hinzu. „Allerdings sind dies keine Allheilmittel.“
Pauline Theiner (12), 7. Klasse, Freie Waldorfschule in Berlin-Kreuzberg
„Richtig leise ist es in meiner Klasse selten, aber die Arbeitsatmosphäre ist meist erträglich. Meine Schule geht von der 1. bis zur 13. Klasse. Wegen der vielen Klassen ist es entsprechend laut – in den Pausen zum Beispiel, vor allem mittags, da die ganze Schule zusammen in einer kleinen Kantine isst. Laut wird es auch, wenn wir von einem Fachraum in einen anderen wechseln oder zusammen mit dem Lehrer etwas an der Tafel lernen. Ich kann mich trotz des Lärms meist gut auf meine Arbeit konzentrieren. Es ist dennoch anstrengender, in einer lauten als in einer leisen Atmosphäre zu arbeiten. Viel kann ich selbst nicht dagegen tun. Da wir häufig in Zweiergruppen arbeiten, können wir manchmal in verschiedene Räume gehen, wo es dann leiser ist. Manche aus meiner Klasse, denen das Lernen sowieso schwerer fällt, wechseln dann oft mit einem zweiten Lehrer in einen anderen Raum. Ansonsten glaube ich, dass meine Mitschüler die Lautstärke nicht als Problem sehen und wie ich ganz gut damit umgehen können.“
Entspanntes Unterrichten
Nach Meinung von Ingenieur Hammelbacher gehört in jedes Klassenzimmer eine professionelle Akustikdecke. Kein Geld? Darüber kann der Lärmexperte nur lachen. Er führt an, dass drei Viertel aller Lehrkräfte vorzeitig in Ruhestand gingen, meist aufgrund psychischer Erkrankungen. „Und Lärm ist einer der größten Stressfaktoren überhaupt.“ Hammelbacher rechnet vor, dass für eine Frühpensionierung etwa 40.000 Euro anfielen, pro Jahr und pro Person. Eine Schallschutzdecke koste etwa 3.000 Euro. „Der Effekt ist Wahnsinn.“
Das haben auch die Lehrkräfte an der Kerschensteinerschule erlebt. „Das Unterrichten ist viel entspannter“, schwärmt Hahn. Natürlich geht es auch im Neubau mal laut zu. Vor allem, wenn im Klassenzimmer zu viele Schülerinnen und Schüler säßen, sagt der Lehrer. An der Wand hängt ein Plakat: Es redet nur eine Person, steht dort mit Filzstift geschrieben. Und: Wir hören dem anderen zu! „Wenn der Grundlärmpegel weg ist, lässt sich sehr gut mit solchen Regeln arbeiten.“