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Virtuelle Realitäten

Streit um Virtual Reality im Unterricht

„Überwältigungstechnik“ oder wertvoller Einsatz moderner Medien? Die Reisen in virtuelle Realitäten, die Google Germany gemeinsam mit der Stiftung Lesen anbietet, werden von Fachleuten unterschiedlich beurteilt. Ein Schulbesuch in Sachsen.

Das Universum erkunden per 3-D-Brille. Foto: Matthias Holland-Letz

„Die Milchstraße!“, ruft Max. „Cool“, tönt es aus der Runde. Gut 20 Schülerinnen und Schüler blicken durch Brillen für virtuelle Realität (VR) – und sehen das Weltall, dunkelblau, mit unzähligen Lichtpunkten. Wer den Kopf nach links bewegt, der entdeckt den Mond. Den Kopf nach rechts drehen – und die Erdkugel taucht auf, riesengroß, in 3-D. „Welchen Kontinent sehen wir gerade?“, fragt Geografielehrer Michael Kunig, 30 Jahre. „Afrika“, antwortet Klara. Wie die sandgelbe Wüste heißt, weiß ein Mitschüler: „Sahara.“

Projektwoche in den Klassen 6 der Oberschule „Maxim Gorki“ in Frohburg, einer Kleinstadt südlich von Leipzig. Die 12- und 13-Jährigen begeben sich heute auf „Google Expeditions“, auf virtuelle Reise, kostenlos angeboten von der Google Germany GmbH und der Stiftung Lesen. Dazu nutzen sie sogenannte Cardboards: Ein Gehäuse aus Pappe, in dem ein handelsübliches Smartphone steckt, dazu zwei eingebaute Linsen – das ist alles. Was die Sechstklässler zu sehen bekommen, steuert Kunig mit dem Tablet-Computer. Auf Tablet und Smartphones ist eine App installiert, die von Google kostenlos im Internet angeboten wird. „Wir können damit zum Mond fliegen, nach London, nach Paris oder zu den Pyramiden“, erklärt Onur Kavasoglu. Der 27-Jährige ist „Expeditions-Trainer“ im Auftrag von Google Germany. Im Gepäck hat er 30 Cardboards samt Smartphones, außerdem einen WLAN-Router. Google startete die „Expeditions“ im Februar 2017; die Stiftung Lesen bietet dazu kostenloses „methodisch-didaktisches Unterrichtsmaterial“. Zielgruppe sind die Klassen 3 bis 6. Bislang haben laut Google bundesweit rund 200 Schulen mitgemacht.

„Kinder und Jugendliche sollen befähigt werden, das Potenzial von Büchern, Zeitschriften, Apps und sozialen Medien selbstbewusst und reflektiert auszuschöpfen.“ (Sabine Uehlein)

Zu Beginn der Stunde warnte Kavasoglu: „Bleibt sitzen! Wenn ihr mit der Brille herumlauft, könnte euch übel werden. Weil eure Sinnesorgane verrückt spielen.“ Das hat auch Emily gemerkt. „Mir wurde fast schwindlig“, sagt die Zwölfjährige. „Weil man im Weltall so tief runtergucken kann.“ Wenn die Klasse unruhig wird, dann tippt Kunig auf’s Tablet – und die Sechstklässler sehen durch das Cardboard das Wort „Pause“. „Damit sich eure Augen erholen“, sagt er, „und damit ihr merkt, dass ihr immer noch im Klassenzimmer seid.“ Es sei wichtig, das virtuelle Reisen „mit Lesen und dem Lösen von Aufgaben zu kombinieren“.

Und wie beurteilen Fachleute das Angebot? „Innovation im Unterricht ist immer gut“, erklärt Professor Stefan Aufenanger, Medienpädagoge an der Uni Mainz. Unterrichtsprojekte mit virtueller Realität könnten „der Veranschaulichung und der Motivierung dienen“. Aufenanger betont: „Wir wissen aber noch zu wenig, ob sie insgesamt eine gute Lernhilfe sind.“ Ablehnend äußert sich Ralf Lankau, Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg. Er spricht von „Überwältigungstechnik“ und „Sedierungsmedien“. Wer sich die VR-Bilder anschaue, müsse sich „nichts mehr selbst vorstellen“. Jeder bleibe „visuell und haptisch in seiner isolierten Welt“.

Google Germany widerspricht: Die Verwendung der „Expeditions“ sei „für Kinder ab sieben Jahren empfohlen“, und zwar „in Rücksprache mit Bildungsexperten, Medienpädagogen und Ärzten“. Entscheidend sei, sagt Google-Pressesprecher Ralf Bremer, dass VR-Lerninhalte „sinnvoll und mit entsprechenden Pausen“ in den Unterricht eingebunden werden. „Wir sehen Virtual-Reality-Anwendungen nicht als Ersatz für räumliches Erleben oder reale Klassenausflüge“, stellt Bremer klar. Lankau kritisiert zudem: „Dass die Stiftung Lesen das Projekt promotet, ist ein Widerspruch in sich.“ Denn Lesen solle dazu anleiten, eigene Vorstellungswelten zu entwickeln. Lankau weiter: „3-D und Multimedia verführen zum Konsumieren vorgefertigter digitaler Welten.“

Die Stiftung Lesen widerspricht: „Der souveräne Umgang mit Medien gehört ebenso wie das Lesen und Schreiben zu den grundlegenden Fähigkeiten in einer vernetzten Gesellschaft“, so Sabine Uehlein, Geschäftsführerin Programme der Stiftung. Und: „Kinder und Jugendliche sollen befähigt werden, das Potenzial von Büchern, Zeitschriften, Apps und sozialen Medien selbstbewusst und reflektiert auszuschöpfen.“

„Auch die Karton-Version der Google-Brille setzt leistungsfähige Geräte voraus, die von Kindern aus benachteiligten Familien besondere Opfer abverlangen.“ (Wolfgang Anritter)

Wolfgang Antritter von der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW (AJuM) erinnert an die Kosten, die mit dem Einsatz von VR verbunden sind: „Auch die Karton-Version der Google-Brille setzt leistungsfähige Geräte voraus, die von Kindern aus benachteiligten Familien besondere Opfer abverlangen.“ Antritter vermutet, dass es Google darum gehe, „schon im Grundschulalter eine Markenbindung bei den Kindern zu erzeugen“. Google-Sprecher Bremer weist das zurück. VR im Unterricht setze „keine Vollausstattung der Klassen mit geeigneter Technik voraus“. Schülerinnen und Schüler könnten eigene Smartphones nutzen („Bring your own device“). Google arbeite zudem mit öffentlichen Bibliotheken zusammen. Einzelne Bibliotheken, sagt Bremer, „bieten den Verleih der Hardware an Schulen an“. Er betont ferner, dass Google nicht das Ziel der Markenbindung verfolge. VR-Brillen seien „von unterschiedlichen Herstellern verfügbar“, ebenso die genutzten Smartphones und Tablets. Und er verweist auf die vielen Partner: „Die einzelnen Expeditionen werden in Kooperation mit Museen, Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen erstellt.“ Bremer räumt ein: Für das Erarbeiten der Begleitmaterialien erhalte die Stiftung Lesen „anteilig Finanzierung seitens Google“.

Auf Misstrauen stößt zudem, dass Google die Schulen mit weiteren Angeboten ins Visier nimmt. In den USA nutzen laut New York Times bereits Millionen Schülerinnen und Schüler Software von Google, oft zusammen mit dem kostengünstigen Google-Laptop „Chromebook“. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, hätten US-Datenschützer den Verdacht, dass Google auf diese Weise Daten von Kindern sammle. Google USA erklärt hingegen, keine personenbezogenen Daten zu speichern. In Deutschland startete der Konzern im Juli 2017 die „Google Zukunftswerkstatt“ – als „breit angelegte Bildungsinitiative“. Dazu gehören kostenlose Programmierkurse für Schülerinnen und Schüler. Die taz berichtete: Um Angebote der „Zukunftswerkstatt“ an Schulen zu platzieren, pflege Google zahlreiche Kontakte in die Politik. Überschrift des taz-Berichts: „Wie deutsche Ministerien dem Konzern helfen, den Unterricht zu erobern“.

Google-Sprecher Bremer räumt ein, dass Professorin Gesche Joost, Internetbotschafterin der Bundesregierung, beim Start-Event der „Zukunftswerkstatt“ in München aufgetreten sei. Im Mittelpunkt der Bildungsinitiative stehen laut Bremer aber nicht die Schulen, sondern „Angebote für professionelle Nutzerinnen und Nutzer“, etwa Arbeitnehmer, Selbstständige, Journalistinnen und Journalisten sowie gemeinnützige Organisationen. Und Lehrer Kunig? Sein Fazit zu den „Expeditions“ fällt positiv aus: „Eine Bereicherung für den Unterricht.“ Wenn die Schülerinnen und Schüler „selbst etwas erkunden, bleibt es länger und fester im Gedächtnis, so wie eine richtige Reise“. Der Pädagoge aus Frohburg schränkt allerdings ein: Die virtuelle Reise dürfe „maximal zehn Minuten am Stück“ dauern. Das Google-Angebot könne daher nur „eine Ergänzung des Unterrichts sein“.