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Bildung und Chancengleichheit

Steuererhöhungen für Wohlhabende

In seinem Jahresgutachten hat sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung mit Bildung und Chancengleichheit beschäftigt. Wie sich soziale Ungleichheit ökonomisch auswirkt, erläutert Prof. Achim Truger.

Längeres gemeinsames Lernen im Kindesalter ist wichtig, um spätere Benachteiligungen zu vermeiden. (Foto: mauritius images/Zoonar GmbH/Alamy)
  • E&W: Herr Professor Truger, wie hat sich die Corona-Krise auf die soziale Ungleichheit in Deutschland ausgewirkt?

Prof. Achim Truger: Das kann man nicht abschließend sagen, weil die Krise noch anhält. Aber wir haben Simulationsstudien zur Einkommensverteilung ausgewertet, die zeigen, dass die Ungleichheit bei den Nettoeinkommen 2020 nicht zugenommen hat. Und das, obwohl die Beschäftigung in der Krise stark beeinträchtigt wurde und es brutto viele Einkommensausfälle gegeben hat.

  • E&W: Wie ist das zu erklären?

Truger: Das liegt wesentlich daran, dass wir einen funktionsfähigen Sozialstaat und das Instrument der Kurzarbeit haben. Zusammen mit zusätzlichen staatlichen Maßnahmen hat das dazu geführt, dass es trotz erheblicher Einbußen bei den Markteinkommen bei den verfügbaren Einkommen im Durchschnitt keinen Anstieg der Ungleichheit gegeben hat.

  • E&W: Welche Gruppen hat es besonders getroffen?

Truger: Insbesondere Selbstständige, geringfügig Beschäftigte und Geringqualifizierte. Für sie gab es größtenteils auch kaum Kompensationsmaßnahmen.

  • E&W: In seinem aktuellen Jahresgutachten hat sich der Sachverständigenrat erstmals ausführlich damit beschäftigt, wie Benachteiligungen durch das deutsche Bildungssystem ausgeglichen werden könnten. Eine Diagnose ist, dass es in der Corona-Krise zu erheblichen Lernrückständen gekommen ist. Was bedeutet das?

Truger: Die Studien, die wir uns angeschaut haben, belegen Lernrückstände. Gleichzeitig gibt es klare empirische Ergebnisse, dass diese im Lebensverlauf zu einem geringeren Einkommen führen. Lernrückstände sind damit ökonomisch gesehen sowohl individuell von Nachteil als auch gesamtwirtschaftlich, weil damit die Produktivität insgesamt geringer ausfällt. Abgesehen von den wirtschaftlichen Konsequenzen sind auch die psychosozialen Auswirkungen ein Problem – individuell wie gesamtgesellschaftlich.

  • E&W: Wer ist davon besonders betroffen?

Truger: Bildungsrückstände sind besonders bei ohnehin schon im deutschen Bildungssystem benachteiligten Gruppen zu verzeichnen, also etwa bei Kindern und Jugendlichen aus Familien, die bildungsfern sind, ein geringes Einkommen oder einen Migrationshintergrund haben. Hinzu kommt, dass Förderangebote zur Kompensation der Bildungsrückstände eher von Heranwachsenden aus dem Bildungsbürgertum genutzt wurden und weniger von sozioökonomisch benachteiligten.

  • E&W: Was schlagen Sie vor?

Truger: Wir sind keine Bildungsforscherinnen und -forscher, sondern haben mit Experten gesprochen und uns die Literatur angeschaut. Damit bleiben wir auf einer ziemlichen Flughöhe und können keine detaillierten Empfehlungen geben. Wir schlagen aber eine gezielte Kleingruppen- und Individualförderung vor, wenn nicht anders möglich auch digital. Und dass man dafür, um schnell handeln zu können, kurzfristig auch auf Studierende oder Freiwillige zurückgreift, wenn das ohnehin stark beanspruchte Lehrpersonal das nicht zusätzlich leisten kann. Klar ist aber, dass es mittelfristig qualifiziertes Personal braucht und in dessen Ausbildung investiert werden muss.

  • E&W: Und wenn es wieder zu Schulschließungen kommt?

Truger: Eine Maßnahme wäre, den Fernunterricht besser zu organisieren. Unser Eindruck ist, dass es hier keine einheitlichen Regeln gab, sondern Schulen und Lehrkräfte häufig auf sich allein gestellt waren. Da braucht es einheitliche und klare Vorgaben. Es darf beispielsweise kein Hickhack geben bei der Frage, welche Lernplattform erlaubt ist.

  • E&W: Stichwort Digitalisierung: Der Sachverständigenrat sieht darin eine Möglichkeit, die Effektivität des Schulsystems zu steigern und die Chancengleichheit zu erhöhen.

Truger: Lernsoftware erlaubt eine Förderung, individuell oder in Gruppen, die man sozusagen nebenher machen kann und mit der man womöglich auch Kinder und Jugendliche besser erreicht. Zudem kann Lernsoftware individuell zugeschnitten werden. Aber dafür braucht es auch entsprechend ausgebildetes Lehrpersonal.

  • E&W: Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen haben sich auch mit einer Reform der Schulsystemstruktur beschäftigt. Mit welchen Erkenntnissen?

Truger: Längeres gemeinsames Lernen ist eine wichtige Komponente, um Benachteiligung zu vermeiden. Studien, die den Lernerfolg untersuchen, zeigen, dass davon insbesondere die nicht so starken Schülerinnen und Schüler profitieren. Gleichzeitig gibt es keine Hinweise dafür, dass die Stärkeren dadurch einen Nachteil haben. Auch ein höherer Ganztagsanteil mit entsprechender qualifizierter Betreuung könnte einen Unterschied machen. Wichtig wäre außerdem, die Ergebnisse anonymer Lernstandserhebungen in den verschiedenen Bundesländern miteinander vergleichen zu können. Das ist bislang nicht möglich, wäre aber gut, damit aus den unterschiedlichen Ansätzen dort Lehren gezogen werden können.

  • E&W: Welchen Vorteil hätte eine solche Vergleichbarkeit?

Truger: Die Uneinheitlichkeit im Bildungsföderalismus wird unter anderem dann zum Problem, wenn man sich beispielsweise aus Gründen des Strukturwandels Mobilität von Arbeitskräften wünscht, aber die Bildungsabschlüsse und -karrieren zwischen den Bundesländern extrem unterschiedlich sind. So können sich Familien mit Kindern schlecht räumlich verändern.

E&W: Wo soll das Geld für eine Reform des Bildungswesens herkommen?

  • Truger: Aus meiner Sicht bräuchte es auf jeden Fall jährlich zusätzlich zweistellige Euro-Milliardenbeträge. Es wäre naheliegend, das durch entsprechende Steuererhöhungen für sehr Wohlhabende zu finanzieren. 

In seinem aktuellen Jahresgutachten bewertet der Sachverständigenrat eine Reform des Ehegattensplittings erstmals positiv – aus Gleichstellungsgründen, aber auch um die Beschäftigung zu fördern. Je nach Umsetzung könnten demnach deutlich über 100.000 Vollzeitstellen zusätzlich entstehen. „Wenn man dann auch noch die Kinderbetreuungsmöglichkeiten verbessert, etwa durch flexiblere Betreuungszeiten, damit mehr Erwerbsarbeit möglich ist, dann sind die Effekte noch mal deutlich größer“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Achim Truger (Universität Duisburg-Essen). Das Ehegattensplitting führt häufig dazu, dass sich für die zweitverdienende Person eher eine geringfügige oder gar keine Beschäftigung lohnt, weil es andernfalls zu hohen steuerlichen Abzügen kommt.

„Klar ist, dass es mittelfristig qualifiziertes Personal braucht und in dessen Ausbildung investiert werden muss.“ (Prof. Achim Truger, Wirtschaftswissenschaftler / Foto: Universität Duisburg-Essen)