Sie werden wechselweise illegal, statuslos, irregulär oder papierlos genannt: Etwa eine Million Menschen leben in der Bundesrepublik ohne rechtmäßigen Aufenthalt. Unter ihnen – auch das eine geschätzte Zahl – sind drei bis fünf Prozent Kinder und Jugendliche. Sie unterliegen der Ausreisepflicht – und gleichzeitig der Schulpflicht. Ausdrücklich gilt diese in Bayern und Nordrhein-Westfalen, in schwächerer Form in Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein, stellt das Bundesinnenministerium im Bericht „Illegal aufhältige Migranten in Deutschland“ fest. Die anderen Bundesländer vermeiden eine Festlegung.
„Kein Hilfssheriff“
Auf die Frage, ob sie manchmal „illegale“ Schüler unterrichte, sagt eine Grundschullehrerin: „Wenn ein Kind in meiner Klasse ist, bin ich seine Lehrerin. Der Rest interessiert mich nicht. Ich bin nicht der Hilfssheriff der Polizei.“ Bei einer Schülerin ahnt sie nur, dass die Papiere nicht in Ordnung sind: „Das ist ein unauffälliges Kind, das hervorragend Deutsch spricht. Wer will da Verdacht schöpfen?“ Eine Hauptschullehrerin weiß von Jugendlichen, die mit einer dreimonatigen Duldung in den Unterricht kommen: „Im Laufe des Schuljahres fragt niemand mehr nach, ob die abgelaufen ist“, sagt sie und fügt hinzu: „Eigentlich müssten wir in solchen Fällen genau hinschauen und individuell helfen. Aber zum Schutz der Illegalen ist es besser, wenn nichts zu uns durchdringt.“
Damoklesschwert Meldepflicht
Diese Haltung hat nichts mit Feigheit oder Faulheit von Lehrkräften, Schul- und Kita-Leitungen zu tun. Über ihnen schwebt, sofern sie in öffentlichen Einrichtungen arbeiten, das Damoklesschwert der Meldepflicht: Offiziell erlangtes Wissen über „illegale“ Familien muss an die Ausländerbehörden weitergegeben werden. Dies hätte die soforti-ge Abschiebung dieser Menschen zur Folge. Wer dagegen Kenntnisse verschweigt, riskiert, dienst- und strafrechtlich belangt zu werden.
Um niemanden zu gefährden, bleiben die zitierten Gesprächspartnerinnen und -partner aus Schule und Kita anonym. Alle arbeiten in München, das prägt ihre Erfahrungen. Denn seit 2004 vertritt das dortige Schulreferat, unterstützt vom Stadtrat, die Auffassung: „Schulleitungen sind aus rein schulrechtlicher Sicht nicht verpflichtet, nach dem Aufenthaltsstatus der Eltern und der Kinder zu fragen.“ Eine Vorgabe mit kuriosen Folgen: Wer die pädagogischen Aufmerksamkeitsregeln verletzt, wegschaut, weghört und keinesfalls nachhakt, kann den Statuslosen am besten helfen.
Ein Hauptschulleiter berichtet: Die Schülerbögen der Grundschule werden einfach übernommen. Und wer sich neu einschreibt, wird nicht nach dem Status gefragt. „Ich erinnere mich an einen 17-Jährigen, der bei uns Mittlere Reife machen wollte. Er sagte, dass er Flüchtling sei. Weil er einen guten Eindruck machte, nahm ich ihn auf.“
Bei der Einschreibung in Realschule und Gymnasium ist eine Geburtsurkunde nötig. Doch wenn das Übertrittszeugnis in Ordnung ist, lässt sich manche Schulleitung auf die Version ein, das Dokument müsse im Herkunftsland neu beschafft werden. Darüber können Jahre vergehen. In München Geborene verfügen teilweise über eine „vorläufige Geburtsurkunde“, kein rechtsverbindliches Dokument, aber zweckdienlich.
Zwei Hürden müssen Kita-Leitungen nehmen, wenn sie ein „illegales“ Kind aufnehmen wollen, ohne der Familie zu schaden: Für den Personalschlüssel in der Einrichtung ist es wichtig, den Nachweis über Migrantenkinder zu führen und wegen der gestaffelten Gebühren müssen Eltern ihre Einkünfte belegen. Eine Kita-Leiterin beschreibt den Ausweg: „Wir wenden die Regelung für Bürgerkriegsflüchtlinge an. Kita-Leitung und Stellvertretung unterschreiben, dass die Betreffenden aus diesem Grund derzeit keine Papiere haben.“
Tägliche Gratwanderungen und Balanceakte, die die Rechtsaufsicht der Stadt zulässt. Weiter reicht der Einfluss nicht. „München nutzt den kommunalen Spielraum, unterstützt und fördert die Vernetzung von Helfern und städtischen Stellen. Das hat auch andere Kommunen aufmerksam gemacht“, urteilt Philip Anderson. Der Professor für Soziale Arbeit an der FH Regensburg hat 2003 im Auftrag des Münchner Stadtrats die Lage Illegaler untersucht und damit ein bundesweites Echo ausgelöst.
Kein einheitliches Bild
Weitere Studien entstanden über die Bildungschancen „Illegaler“, über Wohnen, Arbeit und Gesundheit. Sie beleuchten eine völlig uneinheitliche Szenerie.
Beispiel Frankfurt: Zwischen 1250 und 4000 statuslose Kinder und Jugendliche leben in der Stadt. Laut hessischer Regierung „bedarf es zur Wahrnehmung des Bildungsrechts in allen Fällen einer Klärung des Aufenthaltsstatus“. Sprich: Kitas und Schulen müssen Papiere kontrollieren und im Zweifelsfall Meldung machen.
Beispiel Hamburg: Helferorganisationen warnen vor dem Plan der Hansestadt, ein zentrales Schülerregister zu schaffen und alle Daten ständig mit der Meldebehörde abzugleichen.
Beispiel Köln: Der Kindergartenbesuch ist für „Illegale“ nur bei freien und kirchlichen Trägern möglich. Trotz der Schulpflicht in NRW besuchen „papierlose“ Kinder Kölner Grund- und Hauptschulen meist nur dank informeller Kontakte. Das Katholische Forum „Leben in der Illegalität“ stellt fest: „Werden Kinder nicht eingeschult, bleiben sie nicht nur Analphabeten, sondern können sich auch psychisch und sozial nicht gesund entwickeln.“ Die Realität sieht so aus: Viele statuslose Eltern schicken ihre Kinder nicht in den Unterricht, weil die Angst zu groß ist. Jugendliche ohne Papiere haben keine Chance auf Ausbildung und eine legale berufliche Perspektive. Nur wer unauffällig und angepasst ist, kommt durch. Pädagogische Unterstützung durch Kinder- und Jugendhilfe ist nicht möglich.
Klare Regelungen nötig
Es gibt nur einen Ausweg aus dem Teufelskreis: eine Amnestie und klare Regelungen zur Legalisierung des Lebens. Dafür fehlt bisher der politische Wille. Migrationsforscher Philip Anderson sieht zwei gegenläufige Trends: einerseits eine lebendige Zivilgesellschaft, die Einzelfallhilfe und Lobbyarbeit für die „Papierlosen“ betreibt; andererseits die Politik in Land und Bund, die vorhandene Spielräume einengen will. Aktuelles Beispiel: Das Bundesinnenministerium erwägt eine verschärfte Meldepflicht. Demnach müssten Lehrkräfte und Erzieherinnen die Ausländerbehörde über alles Verdächtige, was sie von Kindern und Jugendlichen „so nebenbei“ erfahren, informieren. „Die Empörung in der Szene ist groß“, berichtet Anderson. „Die Gewerkschaften müssen deutlich machen, was es für Pädagogen bedeutet, wenn sie plötzlich der verlängerte Arm des Staates sein sollen.“