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Nachhaltiges Lernen

Staatliche Handlungszwänge

Die Klimaziele sind wohl nicht ohne Einschnitte in den Lebensstandard der Menschen zu erreichen. Müssen wir das Ideal sozialer Gleichheit verabschieden, um die Erde zu retten?

Wie hängt die soziale Frage mit dem Klimawandel zusammen? (Foto: IMAGO/Westend61)

Die plausible Ausgangsvermutung ist, dass die Klimaziele – zum Beispiel das 1,5-Grad-Beschränkungsziel der globalen Erderwärmung des Pariser Klimaabkommens der Vereinten Nationen (UN) von 2015 – auch deshalb so schwierig oder gar nicht zu erreichen sind, weil steigende soziale Ungleichheit und weltweit sich ausbreitende Armut den politischen Widerstand gegen den Umbau hin zu einer „Green Economy“ umso stärker werden lassen. Wer jeden Tag hart ums Überleben kämpfen muss und trotzdem keinen Tag weiß, ob seine Familie bis am Abend genug zu essen hat und an sauberes Wasser kommt, wird jede Verteuerung der Waren zur Befriedigung der Existenzbedürfnisse ablehnen und nach Kräften bekämpfen.

Das wissen die Regierungen in Ländern mit einem hohen armen Bevölkerungsteil sehr genau. Um an genügend Devisen zu kommen, damit sie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind, werden sie versuchen, ihre eigenen Exportprodukte möglichst „billig“ zu erzeugen, egal, ob diese ökologisch nachhaltig produziert worden sind oder nicht.

Misstrauen gegenüber dem Staat

Der Zusammenhang zwischen steigender globaler Ungleichheit und zunehmender Unwahrscheinlichkeit einer gelingenden Klimapolitik kann auch plausibel gemacht werden, ohne den Fokus allein auf die armen und ärmsten Länder und Regionen dieser Welt zu richten: Wenn in den Ländern des Globalen Nordens die soziale Ungleichheit weiter steigt, wird es einen umso lauteren Aufschrei und stärkeren politischen Widerstand erzeugen, wenn „künstliche“ Preiserhöhungen auf -solche Waren durchgesetzt werden sollen, die die Emission umweltschädlicher Treibhausgase verursachen (zum Beispiel auf Heizöl und Benzin). „Künstlich“ meint hier, dass die Preissteigerungen nicht durch die Marktkräfte verursacht, sondern vom Staat bewusst mittels handelbarer Verschmutzungsrechte (zum Beispiel CO2-Emissionszertifikate) oder Lenkungssteuern oder -abgaben herbeigeführt werden.

Sicher, jede Lenkungssteuer könnte sozial verträglich ausgestaltet werden, indem die daraus geschöpften Mehreinnahmen in Steuersenkungen für kleine Einkommen, in ein staatliches Grundeinkommen, in die Subventionierung klimafreundlicher Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs (zum Beispiel in niedrigere Elternbeiträge für die Kitas oder in den öffentlichen Personenverkehr) fließen. Ökonomisches Wachstum muss also nicht zwingend ausschließlich „quantitativ“, sondern kann auch „qualitativ“ sein. „Qualitativ“ meint: Man kann sich schmackhaftere Nahrungsmittel und bessere Kleidung leisten, wirksamere Medikamente und Therapien, mehr und reichhaltigere Freizeitaktivitäten oder vielfältigeren Kulturgenuss.

Doch solche politischen Versprechen verfangen meist nicht. Neben den sehr finanzkräftigen Kampagnen der Beharrungskräfte bei Abstimmungen und Wahlen ist dafür das wachsende diffuse Misstrauen gegenüber dem Staat verantwortlich: etwa weil vermutet wird, dass dieser die zusätzlichen Mittel „zweckentfremdet“ einsetzt – entweder bewusst (beispielsweise weil die massive militärische Aufrüstung oberste Priorität erhalten hat) oder unfreiwillig (aufgrund der intransparenten Lobby-Einflüsse, die sich den Staat zur Beute machen) oder aufgrund von Korruption oder purer Inkompetenz. Der Verdacht eines „Staatsversagens“ ist vielleicht auch objektiv nicht immer ganz unbegründet, aber er wird durch die Beharrungskräfte auch systematisch geschürt; das ist eine Erklärung für den steigenden Einfluss des staats- und demokratiefeindlichen Rechtspopulismus in Westeuropa und Nordamerika.

Schrumpfen und gleichmachen!

Ist ein „qualitatives“ Wirtschaftswachstum aber überhaupt zu realisieren? Im Einklang mit der „Degrowth“-Bewegung, die eine deutliche Reduzierung des Massenkonsums in den Ländern des Globalen Nordens fordert, sagt zum Beispiel die Journalistin und Publizistin Ulrike Herrmann, wir könnten die Klimaziele weltweit nur noch dann erreichen, wenn nebst technischem Umbau der Wirtschaft („Decarbonisation“) auch eine Reduktion der physikalisch messbaren Produktion von Gütern und Dienstleistungen konkret ins Auge gefasst werde. In ihrem 2023 erschienenen Buch „Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind“ beschreibt sie das Dilemma, dass „Degrowth“ im Kapitalismus jedoch katastrophale Folgen hätte (ähnlich wie in der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre bis Anfang der 1930er-Jahre).

Ihr Vorschlag für die Loslösung vom kapitalistischen Wachstumszwang: ein Umbau der Wirtschaft nach dem Vorbild der britischen Kriegswirtschaft von 1939, die dank einer strengen Rationierung eine Reduzierung des Gesamtkonsums um rund ein Drittel auf sozial verträgliche Weise organisierte. Ohne eine Verstaatlichung der Wirtschaft soll eine dirigistische staatliche Planwirtschaft den ökologischen Umbau der Wirtschaft im übergeordneten „Degrowth“-Regime einläuten.

Aber ist das realistisch? Immerhin gibt das historische Vorbild einen klaren Hinweis, dass die Reduktion sozialer Ungleichheit nützlich für die Organisierung des „Degrowth“-Regimes wäre: Die Mengen- und Preiskontrollen waren in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs ungemein populär. Die britische Regierung stellte bereits 1941 fest, dass das Rationierungsprogramm „einer der größten Erfolge an der Heimatfront“ sei. Die staatlich verordnete Gleichmacherei erwies sich als ein Segen: Ausgerechnet im Krieg waren die unteren Schichten besser versorgt als je zuvor. In Friedenszeiten hatte ein Drittel der Briten nicht genug Kalorien erhalten, weitere 20 Prozent waren zumindest teilweise unterernährt. Nun, mitten im Krieg, war die Bevölkerung so gesund wie nie, wobei, so Herrmann, die „Fitness der Babys und Schulkinder besonders hervorstach“.

Zwei entscheidende Haken

Dennoch: Die originelle Idee, die britische Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg zum Vorbild für das „Degrowth“-Regime zu nehmen, hat leider mindestens zwei entscheidende Haken: Erstens müsste diese „Kriegswirtschaft“ in allen Ländern der Erde gleichzeitig eingeführt werden. Das scheint aber gegenwärtig und in absehbarer Zukunft ein völlig unrealistisches politisches Handlungsziel zu sein. Eine „Überwindung“ des Kapitalismus in dieser politisch bewusst organisierten Weise anzustreben, ist in der Praxis einfach keine politische Mission. Der Ökonom Karl Marx zum Beispiel glaubte bei der „Überwindung“ bzw. „Aufhebung“ des Kapitalismus zu keinem Zeitpunkt an den Staat und die Politik – und das völlig zu Recht.

Zweitens funktioniert eine dirigistische Planwirtschaft nur für eine beschränkte Zeit. Je länger das staatliche Planungsmonopol dauert und je länger die Konkurrenz unter den Marktanbietern (den Unternehmen und Arbeitskräften) ausgeschaltet ist, desto ineffizienter wird sich die Wirtschaft entwickeln, weil die „Preissignale“ immer weniger Informationswert haben. Die Innovationskraft der Wirtschaft wird immer mehr erlahmen, weil jeder Anreiz wegfällt, Wettbewerbsvorteile zu erringen. Auf Nachfrageseite wird die rigide Bevormundung aus Rationierung und verordnetem Realeinkommensrückgang in einer Demokratie höchstens in akuten Notzeiten und klar befristet durchzusetzen sein. Doch die „Kriegswirtschaft“ müsste langfristig auf unabsehbare Zeit aufrechterhalten bleiben. 

Der Text ist in einer längeren Version erstmals in der Zeitschrift „bildungspolitik“ – Zeitschrift für Bildung, Erziehung und Wissenschaft des Schweizerischen Verbands des Personals öffentlicher Dienste (vpod), Ausgabe Februar 2024, erschienen.