9. November 1938
„Sprechen ist der Schlüssel“
Am 9. November 1938 brannten in Deutschland Synagogen, wurden Jüdinnen und Juden geschlagen, gedemütigt und Hunderte ermordet. Mit dem Novemberpogrom begann der Holocaust, der Genozid am europäischen Judentum.
E&W hat mit dem Journalisten Hans Riebsamen (70) über vererbte Traumata der Nachkommen jüdischer Holocaustüberlebender gesprochen.
- E&W: Herr Riebsamen, in Ihrem Buch „Nie gefragt – nie erzählt“ stellen Sie Kinder und Enkel von Holocaust-überlebenden vor und beschreiben deren Aufwachsen in „Schweigefamilien“. Warum schweigen die Opfer?
Hans Riebsamen: Die Täter schweigen, um ihre Schuld zu verbergen. Bei den Opfern spielt oft Scham eine Rolle. Viele wollen auch ihre Kinder und sich selbst vor den schrecklichen Erinnerungen schützen.
- E&W: Der Fotograf Rafael Herlich, mit dem Sie für das Buch zusammengearbeitet haben, sagt: „Mein Vater ist kein Holocaustüberlebender, er ist immer im Holocaust geblieben.“ Das unbewältigte Trauma ist der Grund für das Schweigen. Warum öffnen sich die Menschen ausgerechnet Ihnen?
Riebsamen: Auch wenn in den Familien lange geschwiegen wurde, haben die Überlebenden doch oft später mit den Kindern und Enkeln geredet. Was die Töchter, Söhne oder Enkel dabei erfuhren, haben sie mir erzählt. Den Zugang zu den Familien hat mir Rafael Herlich ermöglicht, der seit über 20 Jahren jüdisches Leben in Deutschland fotografiert.
- E&W: Neben den Schweigefamilien gibt es auch welche, in denen die Überlebenden sehr offensiv mit ihrer Geschichte umgegangen sind, etwa im Fall des Regisseurs und Schriftstellers Michel Bergmann. Macht es das für die Nachkommen leichter?
Riebsamen: Meiner Einschätzung nach gab es in etwa einem Drittel der Familien einen sehr offensiven Umgang mit dem Holocaust – Michel Bergmann hat im Buch „Mameleben“ seine Mutter und ihre fast aggressive Art beschrieben. Am wenigsten Leid erleben die Familien, in denen offen und sozusagen normal über das Thema gesprochen wurde. Das Sprechen ist der Schlüssel.
- E&W: Sie haben als Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung viel über jüdisches Leben in Deutschland berichtet. Was gab den Ausschlag zu diesem Buch?
Riebsamen: Der geistige Vater ist der Holocaustüberlebende und Historiker Arno Lustiger, mit dem ich befreundet war. Der konkrete Vorschlag, ein Buch über die Weitergabe des Traumas zu machen, kam von Rafael Herlich, der viele Familienszenen fotografiert hat, in denen Überlebende inmitten ihrer Kinder und Enkel stehen. Eigentlich war an ein Fotobuch mit wenig Text gedacht, aber es hat sich schnell herausgestellt, dass die Lebensgeschichten der Überlebenden und die historischen und politischen Hintergründe nicht ausgeklammert werden können.
- E&W: Das Titelbild zeigt Markus Stutzmann mit seinem Enkel am Hauptbahnhof in Frankfurt am Main. 1939 hatte er von dort als Kind Deutschland verlassen und seine später ermordete Mutter, eine vom evangelischen zum jüdischen Glauben konvertierte Krankenschwester, zum letzten Mal gesehen. Sie schreiben, dieses Foto symbolisiere das Thema des Buches: überleben und eine eigene Familie gründen, aber eben auch das vererbte Trauma. Wie sehr prägen diese Traumata die folgenden Generationen?
Riebsamen: Die Überlebenden sind alle traumatisiert, es ist eine erstaunliche Leistung, dass sie wieder ins Leben gefunden, Kinder bekommen und eine Existenz gegründet haben. Die Söhne und Töchter sind stark beeinflusst, auch dann, wenn die Eltern sie durch ihr Schweigen schützen wollten. Manche der Nachkommen haben Panikattacken, fast alle sind sehr sensibel, nehmen Bedrohungen extrem deutlich wahr. Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 hat bei Überlebenden und ihren Kindern eine Re-Traumatisierung bewirkt.
- E&W: In Deutschland leben die Enkel- und Urenkelgeneration der Täter mit denen der Opfer zusammen. Was macht das mit uns allen?
Riebsamen: Aktuell herrscht auf jüdischer Seite eine große Enttäuschung. Man hatte erwartet, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft den Angriff der Hamas deutlich verurteilt, stattdessen baute sich eine Welle von Antisemitismus auf. Zurzeit findet eine Entfremdung zwischen beiden Seiten statt.
- E&W: Schon vorher hatten die Nachkommen der Opfer die fehlende Empathie in der Mehrheitsgesellschaft und die „Nun soll es doch mal gut sein“-Haltung beklagt, die im Rahmen des Rechtsrucks der Gesellschaft um sich greift. Können Sie nach Ihren Gesprächen sagen, was sich die Kinder und Enkel der Überlebenden wünschen?
Riebsamen: Gewünscht hätten sie sich eine Reaktion wie nach dem Attentat auf die Zeitschrift „Charlie Hebdo“. Damals gingen viele Demokraten, vor allem auch die deutsche Linke spontan auf die Straße. Nach dem Angriff auf Israel fehlte so eine Reaktion. Die junge jüdische Generation nimmt das sehr klar zur Kenntnis. Ich glaube, dass es nicht nur eine Weitergabe des Traumas in den Opferfamilien, sondern auch eine Weitergabe von Antisemitismus in Täterfamilien gab. Nur so ist erklärlich, wie stark heute wieder die Erzählungen etwa von jüdischer Weltherrschaft verbreitet sind.
- E&W: Die meisten, die den Horror der KZ und Todesmärsche selbst erlebt haben, sind inzwischen verstorben. Ist es fair, die Nachfahren als eine Art Brücke zur Erinnerung zu benutzen?
Riebsamen: Ja, wenn die Töchter, Söhne und Enkelkinder bereit sind, diese Brücke zu bilden. Das gilt für alle, mit denen ich gesprochen habe: Ihnen ist es wichtig, als sekundäre Zeugen über den Holocaust zu sprechen. Heute gehören in Deutschland etwas mehr als 100.000 Menschen jüdischen Gemeinden an, weitere rund 150.000 sind jüdisch ohne Gemeinde-Mitgliedschaft. Das heißt aber für die meisten Menschen der Mehrheitsgesellschaft, dass sie nie bewusst einen Juden gesehen haben. Ein Ziel des Buches ist es, heute hier lebende Juden als ganz normale Mitglieder der Gesellschaft zu zeigen.
- E&W: Eine Frage, die Sie als Autor vermutlich nur mit Ja beantworten können: Wäre Ihr Buch im Schulunterricht einsetzbar?
Riebsamen: Ja, eindeutig haben wir das Buch auch für den Schulunterricht gemacht. Es sind kurze Kapitel, die einzeln behandelt werden können. Angehörige der Enkelgeneration können angesprochen und gebeten werden, in den Unterricht zu kommen. Rafael Herlich und ich wollen mit dem Buch etwas Positives bewirken.
Das hat der Beutelsbacher Konsens damit zu tun
Demokratiebildung ist zentraler Bestandteil des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule. Die Landesschulgesetze beschreiben die Ziele. Lehrkräfte sollen demokratische Werte wie Würde und Gleichheit aller Menschen, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität vermitteln.
Wenn es in der Schule um politische Bildung geht, müssen sich Lehrkräfte nicht neutral verhalten. Es ist wichtig, verschiedene Blickwinkel zu beleuchten. Lehrkräfte sollen auf Basis des Grundgesetzes eine klare Haltung gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Gewaltverherrlichung und menschenverachtende Aussagen zeigen.
Oft fällt das Stichwort ’Beutelsbacher Konsens’. Er ist ein in den 1970er-Jahren formulierter Minimalkonsens für den Politikunterricht in Deutschland. Er darf nicht mit dem parteipolitischen Neutralitätsgebot des Staates verwechselt werden. Der Konsens formuliert drei zentrale didaktische Prinzipien politischer Bildung: das Überwältigungs- bzw. Indoktrinationsverbot, das Kontroversitätsgebot sowie das Ziel, dass Schüler*innen zur politischen Teilhabe befähigt werden sollen. Lehrkräfte dürfen ihre eigene politische Meinung ausdrücken, diese aber nicht als allgemeingültig darstellen. Kontroverse Themen müssen multiperspektivisch behandelt werden.
1. Überwältigungsverbot
Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.
Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende andere Ansichten kommen ja zum Zuge.
3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren,
sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich erhobene Vorwurf einer „Rückkehr zur Formalität“, um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.