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Bundestagswahl 2021

Soziale Schieflage

Förderlücken, hohe Befristungsquoten, marode Gebäude: An den Hochschulen sind grundlegende Reformen überfällig.

Fehlende Wohnheimplätze, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, kaum noch Studierende, die BAföG erhalten: Die Schieflage im deutschen Hochschulsystem ist in den vergangenen Jahren größer geworden. (Foto: Pixabay/Free-Photos)

Nach drei Corona-Semestern ist der Frust groß an Deutschlands Hochschulen. Kaum noch etwas ist übrig von dem Optimismus zu Beginn der Pandemie, als die Umstellung auf Online-Lehre besser und zügiger gelang als erwartet. Vor allem die Studierenden fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Unter Hashtags wie #onlineleere oder #nichtnuronline haben sich Initiativen gebildet, die mit offenen Briefen und Protestaktionen an die Öffentlichkeit gehen. Ihre Forderung: Es soll zumindest darüber diskutiert werden, wie die Rückkehr zur Präsenzlehre und damit zu dem für ein Studium so wichtigen sozialen Austausch ermöglicht werden kann.

Dass der Eindruck, vergessen zu werden, nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, zeigte sich bei der „Bundesnotbremse“. Als der Bundestag Ende April über das neue Infektionsschutzgesetz debattierte, fiel der Begriff „Hochschule“ kein einziges Mal. Und im Gesetz wurde der Hochschulbetrieb einfach mit den Schulen gleichgesetzt. Auch hier sollte ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 an drei aufeinanderfolgenden Tagen Wechselunterricht angeboten werden. Bildungsexpertinnen und -experten protestierten. Die Bestimmung sei „völlig untauglich“ für Hochschulen und beruhe auf „weltfremden Annahmen“, lautete das Urteil. Inzwischen hat das Bundeskabinett nachgebessert und das Wechselmodell für die Hochschulen gestrichen.

Das Beispiel zeigt exemplarisch, dass die Politik den über 400 Hochschulen mit ihren gut 700.000 Beschäftigten und rund drei Millionen Studierenden nicht den Stellenwert einräumt, den sie eigentlich haben müssten, wenn die Rede von der Wissensgesellschaft ernst genommen werden soll. Die Liste an Problemen im Hochschulsystem ist entsprechend lang.

Lücken in der BAföG-Förderung

Beispiel BAföG. Die Ausbildungsförderung, die vor 50 Jahren eingeführt wurde, ist heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ursprünglich wurde das BAföG als Vollzuschuss gezahlt, denn es sollte nicht nur vom Geldbeutel der Eltern abhängen, ob jemand studieren kann. Die Freibeträge waren so bemessen, dass fast die Hälfte der Studierenden die Förderung erhielt. „Heute liegt die -Förderquote nicht mehr bei 45 Prozent, sondern nur noch bei 11 Prozent“, sagt Andreas Keller, -Hochschulexperte der GEW. Das Schüler-BAföG wurde 1982 sogar weitgehend abgeschafft. „Das BAföG ist am Tiefpunkt seiner Geschichte – Chancengleichheit im Bildungswesen erreicht man so nicht.“

Zudem muss nun die Hälfte der Förderung zurückgezahlt werden. „Das schreckt ab“, sagt Keller. „Viele nehmen gar nicht erst ein Studium auf, um nicht mit Schulden ins Berufsleben zu starten.“ Die Zahl der Studierenden aus Elternhäusern mit geringem Einkommen ist deshalb nach wie vor -unterdurchschnittlich. Auch insgesamt hinkt Deutschland im internationalen Vergleich hinterher. Zwar geht heute schon über die Hälfte eines Jahrgangs an die Hochschulen. Doch in anderen Industriestaaten sind es 70 bis 80 Prozent. Wenn Berufe im Erziehungs- und Pflegebereich, wie vielfach gefordert, akademisiert und damit aufgewertet werden sollen, muss es attraktiver werden, ein Studium aufzunehmen.

„In der kommenden Legislatur muss endlich mehr geschehen als eine weitere rein quantitative Erhöhung der Fördersätze und Freibeträge, damit wieder mehr Studierende BAföG erhalten, gerade solche aus der unteren Mittelschicht.“ (Achim Meyer auf der Heyde)

Die enormen Lücken in der BAföG-Förderung haben Folgen. Zwei Drittel der Studierenden müssen Nebenjobs nachgehen, nicht nur in den Semesterferien, sondern das ganze Jahr über. Dadurch braucht die große Mehrheit für ihr Studium zwei Semester länger als die Regelstudienzeit, an die jedoch die BAföG-Förderungshöchstdauer gekoppelt ist. Das Deutsche Studentenwerk (DSW) und die Hochschulrektorenkonferenz halten es deshalb für „unabdingbar“, dass das BAföG grundlegend reformiert wird mit dem Ziel, die Förderquote wieder auf annähernd 50 Prozent der Studierenden zu erhöhen – unter anderem durch eine Verlängerung der Regelstudienzeit. „In der kommenden Legislatur muss endlich mehr geschehen als eine weitere rein quantitative Erhöhung der Fördersätze und Freibeträge“, sagt DSW-Generalsekretär Achim Meyer auf der Heyde, „damit wieder mehr Studierende BAföG erhalten, gerade solche aus der unteren Mittelschicht.“

Für „überfällig“ hält das DSW auch einen Bund-Länder-Hochschulsozialpakt in Höhe von 3,5 Milliarden Euro für die nächsten fünf Jahre. „Seit Jahren wächst die Zahl der Studierenden, aber die soziale Infrastruktur kann mangels entsprechender Finanzierung nicht mitwachsen“, erklärt Meyer auf der Heyde. „Das ist eine strukturelle Schieflage.“ Nur um 8 Prozent ist die Zahl der staatlich geförderten Wohnheimplätze seit 2007 gestiegen, während die der Studienplätze fast um die Hälfte zunahm – und damit auch der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum angesichts stark steigender Mieten gerade in den Städten.

Schlechte Bedingungen auch für Lehrende

Prekär ist die Lage aber nicht nur für viele Studierende. Auch die Mehrheit der Lehrenden muss mit alles andere als günstigen Bedingungen zurechtkommen. Von „Unsicherheit“ und „dringendem Handlungsbedarf“ spricht die Bildungsforscherin Anke Burkhardt, die am kürzlich vorgelegten neuen Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs mitgearbeitet hat.

„Unterhalb der Professur gibt es praktisch keine Dauerstellen“, sagt Burkhardt. Wer nach der Promotion an der Hochschule bleibt, muss sich über Jahre hinweg von einem befristeten Vertrag zum nächsten hangeln, oft in Teilzeit und mit vielen unbezahlten Überstunden. Zu dem permanenten Stress einer ungewissen Zukunftsperspektive kommt noch die Anforderung, selber die Drittmittel einwerben zu müssen, über die man bezahlt wird. Bei den wissenschaftlichen Mitarbeitenden, die jünger als 45 Jahre sind, liegt die Befristungsquote bei 92 Prozent. Bei den bis zu 35-Jährigen sind es sogar 98 Prozent. Auch im internationalen Vergleich sind dies Rekordzahlen. Um Abhilfe zu schaffen und dem Nachwuchs eine bessere Perspektive zu bieten, müsste das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, das die seriellen Befristungen möglich macht, ebenfalls umfassend reformiert werden.

Fehlende Dauerstellen

Auch diese Schieflage hat Folgen. Da die Zahl der Professuren in den vergangenen Jahren deutlich weniger angewachsen ist als die Zahl der Studierenden und der Nachwuchsforschenden, verschlechtert sich die Betreuungsrelation. „Nur noch 8 Prozent der Stellen der wissenschaftlichen und künstlerischen Beschäftigten, die neben- und hauptberuflich an den Hochschulen arbeiten, sind Professuren“, sagt Burkhardt. „Betreuungsaufgaben werden dann auf die Mitarbeiterebene verschoben – das sind aber Daueraufgaben, für die es auch Dauerstellen geben sollte.“ Das würde auch den Studierenden helfen.

„Wenn der Bund Geld gibt, müsste er darauf pochen, dass bestimmte Standards für gute Arbeit gelten.“ (Andreas Keller)

„Immerhin werden die Probleme von der Politik nicht mehr geleugnet“, sagt GEW-Vorstand Keller. Mit dem „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ stellt der Bund nun jährlich 1,88 Milliarden Euro bereit und verlangt von den Hochschulen Konzepte für die Förderung unbefristeter Beschäftigungsverhältnisse. Doch es gibt noch weitere Stellschrauben, an denen man Keller zufolge drehen könnte. „Wenn der Bund Geld gibt, müsste er darauf pochen, dass bestimmte Standards für gute Arbeit gelten.“ Große Forschungseinrichtungen wie die Max-Planck-Gesellschaft oder die Leibniz-Gemeinschaft, die nahezu komplett öffentlich finanziert werden und dann Drittmittel vergeben, unterschreiben beispielsweise keinen Tarifvertrag. Sie wenden ihn zwar an, aber nur teilweise. „Doktorandinnen und Doktoranden etwa bekommen bei ihnen nur die Hälfte bis zwei Drittel des Tariflohns“, sagt Keller. „Das ist ein Skandal.“

Corona hat offengelegt, wie viel im Hochschulsystem seit langem im Argen liegt. Ein Problem wird aber wohl erst ins Auge fallen, wenn Studierende und Lehrende wieder zum Präsenzunterricht an die Hochschulen zurückkehren können: der riesige Sanierungsbedarf bei den Gebäuden. Schon vor Jahren hat die Kultusministerkonferenz diesen auf rund 50 Milliarden Euro beziffert. Heute dürfte es noch mehr sein. Die Finanzierung durch den Bund lief aber vor zwei Jahren vollständig aus.