Streit über Rentenreform
Armutsrisiko im Alter steigt
95 Prozent aller Erwerbstätigen beziehen im Ruhestand Rente, doch zunehmend reicht diese nicht mehr aus. Parteien, Verbände und Wissenschaft streiten über den Weg zu einer tragfähigen Reform der Alterssicherung.
Deutschland 2019: Das Armutsrisiko für Rentnerinnen und Rentner wächst. Seit Einführung der Grundsicherung 2003 hat sich die Zahl der Empfänger ungefähr verdoppelt. Und selbst bei guter Konjunktur könnte das Armutsrisiko bis 2039 von 16,8 auf 21,6 Prozent der Rentner steigen, knapp 12 Prozent seien dann wohl auf Grundsicherung angewiesen, prognostizierte Mitte September eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.
Susanne Kümpers, Professorin an der Universität Fulda, erforscht seit Jahren den Zusammenhang zwischen den Lebenslagen sozialer Gruppen und den Folgen für ihr Leben im Alter. Besonders bedroht von Altersarmut seien drei Gruppen: Erstens Geringverdienende mit längeren Phasen der Unterbeschäftigung und Langzeitarbeitslose, vor allem in Ostdeutschland. Dort können die Menschen zudem seltener auf ein Vermögen zurückgreifen, um Einkommensausfälle im Alter zu kompensieren.
Zweitens Frauen. „Zum einen verrichten Frauen nur ein Drittel der bezahlten, aber zwei Drittel der unbezahlten Arbeit“, so Kümpers – Kindererziehung, Pflege, Alltagsmanagement. Dafür stecken sie im Lebensverlauf häufiger beruflich zurück, sammeln weniger Rentenansprüche. „Zum anderen arbeiten sie in schlechter bezahlten Branchen und verdienen zudem in den gleichen Jobs durchschnittlich weniger als ihre Kollegen.“ Der sogenannte Gender Pay Gap von 21 Prozent in Deutschland – der zweithöchste in Europa – spiegelt sich verschärft im Gender Pension Gap wider, wie es in der Wissenschaft heißt: Frauen in Deutschland beziehen durchschnittlich um 53 Prozent niedrigere Renten als Männer.
Zwei Drittel der erwerbstätigen Frauen verdienen nicht genug, um ihre Existenz langfristig aus eigenem Alters-einkommen zu sichern. Dabei steigt ihr Armutsrisiko, wenn sie alleine leben oder nur geringe Ansprüche auf eine Witwenrente haben. Heutige Rentnerinnen aus dem Osten beziehen allerdings noch vergleichsweise hohe Renten. Sie profitieren von der starken Erwerbsbeteiligung von Frauen in der DDR. Dieser Vorteil schwindet mittelfristig.
Drittens haben Menschen mit Migrationshintergrund ein erhöhtes Risiko, im Alter nicht über die Runden zu kommen. Fast ein Drittel der Migranten, die älter als 65 Jahre sind, gilt als armutsgefährdet. Viele von ihnen haben nur einen Teil ihres Lebens in Deutschland gearbeitet; außerdem häufiger in schlecht bezahlten Jobs.
„Wenn Menschen, die jahrelang Beiträge gezahlt haben, am Ende des Lebens nur eine Rente am Rande der Grundsicherung erhalten, bekommen wir ein Akzeptanzproblem. Wir brauchen ein System, das Abstürze verhindert.“ (Gerhard Bäcker)
Das Problem: „Armut ist im Alter meist unumkehrbar“, analysiert Kümpers. „Alte Menschen sind mit zunehmenden Einschränkungen weniger wehrhaft und daher anfälliger für Krisen wie den drohenden Verlust der Wohnung.“ Umso wichtiger sei ein System der Alterssicherung, das sozioökonomische Ungleichheiten kompensiert.
Bis 1992 war das Prinzip des sozialen Ausgleichs im deutschen Rentensystem auch stärker verankert. Seitdem wurden das Solidarprinzip sukzessive zugunsten des Äquivalenzprinzips (wer mehr einzahlt, bekommt auch mehr raus) heruntergefahren und die private Vorsorge propagiert. Die Rente nach Mindestentgeltpunkten, die auch langjährige Geringverdiener im Alter absichern sollte, lief aus.
Die Rentenreform 2001 brachte den endgültigen Paradigmenwechsel: Das Rentenniveau wurde abgesenkt, die Rentenanpassung folgt seitdem nicht mehr eins zu eins der Lohnentwicklung. Gleichzeitig verabschiedete man sich von der Idee einer Lebensstandardsicherung aus der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und setzte auf ein Dreisäulenmodell: GRV plus betriebliche Zusatzversicherung plus private Vorsorge. Die Versicherten sollten ihre Rente um private Vorsorge, die sogenannte Riester-Rente, ergänzen. Nur: „Die GRV deckt etwa 85 Prozent der Leistungen ab, es ist völlig unrealistisch, dass die anderen beiden Säulen ihren Leistungsabbau kompensieren können“, sagt Gerhard Bäcker, Sozialwissenschaftler am Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisberg-Essen.
Das belegen empirische Befunde: Die unteren Einkommensgruppen beteiligen sich kaum an den Riester-Programmen, Niedrigzinsen und sinkende Renditen aus den Kapitalmärkten mindern die Erträge für private Vorsorge, betriebliche Absicherungen gibt es vor allem in Großbetrieben. Hinzu kommt: Teilzeitarbeit, Niedriglohn und prekäre Beschäftigung haben zugenommen. Wer aus gesundheitlichen Gründen früher in Rente gehen muss, hat Abschläge hinzunehmen. Wer länger als ein Jahr lang arbeitslos ist, bekommt für die Rente nichts mehr dazu. Und da das Rentenniveau nicht mehr uneingeschränkt der Lohnentwicklung folgt, sinken die Renten im Verhältnis zu den Löhnen. „Wenn Menschen, die jahrelang Beiträge gezahlt haben, am Ende des Lebens nur eine Rente am Rande der Grundsicherung erhalten, bekommen wir ein Akzeptanzproblem“, so Bäcker. „Wir brauchen ein System, das Abstürze verhindert.“
„Die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung ist die richtige Antwort, um endlich wieder ein Stück Solidarausgleich herzustellen.“ (Markus Hofmann)
Ein Schritt in die richtige Richtung könnte die Grundrente sein, die Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Februar 2019 vorgestellt hat. Die Idee: Versicherte, die mindestens 35 Jahre lang für ein niedriges Einkommen gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben, sollen ein Alterseinkommen 10 Prozent über der Grundsicherung erhalten. „Die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung ist die richtige Antwort, um endlich wieder ein Stück Solidarausgleich herzustellen“, sagt Markus Hofmann, Abteilungsleiter Sozialpolitik beim DGB.
Hier allerdings liegt der Streitpunkt. Union, FDP und AfD lehnen eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung ab und wollen nur diejenigen begünstigen, die nach Anrechnung des gesamten Haushaltseinkommens und Vermögens (über 5.000 Euro) als anspruchsberechtigt gelten. „Doch gerade die Bedürftigkeitsprüfung würde die Betroffenen zwingen, ihre gesamten Einkommensverhältnisse und die ihres Partners offenzulegen“, kritisiert Hofmann, „das wird ihrer Lebensleistung nicht gerecht.“ Auch die Rentenversicherung lehnt die Grundrente mit Bedürftigkeitsprüfung strikt ab. Sylvia Dünn, Geschäftsführerin der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg: „Aus der Versicherungsleistung Rente würde eine Fürsorgeleistung, ein absoluter Systembruch. Wir haben weder die Strukturen, um eine solche Prüfung durchzuführen, noch halten wir sie für richtig.“
Für Rentenforscher Bäcker ist die Grundrente nur ein Baustein einer zukunftsfähigen Alterssicherung. Der Zweite: das Rentenniveau wieder an die Lohnentwicklung koppeln. Auf Druck der SPD wurde jetzt immerhin bis 2025 eine „Haltelinie“ gesetzlich festgeschrieben, das heißt, die weitere Absenkung ist erst einmal gestoppt. Doch langfristig gehe es nicht ohne einen dritten Schritt: alle Erwerbstätigen in ein solidarisches System der Alterssicherung aufnehmen, Selbstständige, berufsständisch Versicherte und letztlich auch Beamtinnen und Beamte.
Wie funktioniert die Rente? Die drei größten Irrtümer
- Irrtum 1: Die letzten Jahre vor der Rente sind besonders wichtig.
Nein, die Rentenhöhe resultiert aus dem gesamten Versicherungsleben. Für Zeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es Entgeltpunkte, für -Erwerbstätigkeit ebenso wie etwa für Kindererziehung. Alle Entgeltpunkte sind Rentenbausteine, aus denen man sich bis zum Ruhestand ein Rentenhaus baut. Wann die Punkte gesammelt wurden, spielt keine Rolle.
- Irrtum 2: Das Rentenniveau verrät, wie viel Geld Rentner bekommen.
Falsch. Das Rentenniveau hat nichts mit der individuellen Rentenhöhe oder einer Durchschnittsrente zu tun. Es ist eine abstrakte statistische Mess-größe, die prozentual die Rentenhöhe eines Durchschnittsverdienenden nach 45 Jahren Beitragszahlung mit dem Einkommen eines heutigen Durchschnittsverdienenden vergleicht.
- Irrtum 3: Zur Rente darf ich hinzuverdienen, ohne dass diese gekürzt wird.
Stimmt nur teilweise. Wer die Regelaltersgrenze von 65 Jahren plus x erreicht hat, darf zu seiner eigenen Altersrente in der Tat unbegrenzt dazuverdienen, ohne dass diese gekürzt wird. Aber: Das gilt nicht für die Hinterbliebenenrente. Und wer neben einer vorzeitigen Altersrente jobbt, muss Abzüge einkalkulieren. Seit Juli 2017 gilt: Übersteigt der Nebenverdienst 6.300 Euro im Jahr, wird der darüber liegende Betrag zu 40 Prozent auf die Rente angerechnet.
GEW-Kommentar: Viele haben noch dieses Bild im Kopf: In der Bildungsgewerkschaft GEW sind vor allem Beamtinnen und Beamte organisiert, die meisten GEW-Mitglieder bekommen im Ruhestand also eine Pension. Rente? Damit haben wir nur wenig zu tun. Doch dieses Bild ist falsch. Die Zahl der Angestellten in der GEW wächst schnell. Noch bezieht nur ein Viertel der Seniorinnen und Senioren eine Rente. Das wird sich massiv ändern. Denn bereits jetzt sind 47 Prozent der erwerbstätigen Mitglieder Angestellte. Die aktuellen Verhandlungen über die Zukunft der Rente sind für sie sehr wichtig. Es ist Zeit, etwas zu tun. Die GEW setzt sich beispielsweise dafür ein, dass Bildungszeiten (Schule, Hochschule, Weiterbildung) die Rente wieder erhöhen. Die GEW macht sich für die Zukunftsfestigkeit der Pensionen und eine langfristige Anhebung des Rentenniveaus stark: Alle Menschen haben Anspruch auf eine Alterssicherung, die ihnen ein Leben in Würde ermöglicht – egal ob sie Pension oder Rente beziehen. Wir brauchen ein universelles Alterssicherungssystem, das die gesamte Bevölkerung umfasst, jede Form der Erwerbsarbeit gleichbehandelt, den Lebensstandard sichert, Lebensrisiken solidarisch absichert und Altersarmut effektiv verhindert. Frauke Gützkow, GEW-Vorstandsmitglied Frauen- und Seniorinnenpolitik |