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Tarifrunde 2022: Sozial- und Erziehungsdienst Kommunen

So schlimm wie noch nie

Die Anforderungen an die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst (SuE) steigen permanent. Nach wie vor sind allerdings die Arbeitsbedingungen unzureichend, und es fehlt an finanzieller Anerkennung der Arbeit. Zwei GEW-Mitglieder berichten.

„In der Pandemie gibt es viel Applaus für uns, aber es fehlen Taten.“ (Kathrin Gröning, Erzieherin / Foto: Christoph Boeckheler)

Manchmal könnte Kathrin Gröning verzweifeln. Zunehmend wird die Zeit im Kita-Alltag knapp. Zeit für den fachlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen hat sie kaum noch. Und Fragen wie die, wie sie im Team ihre Arbeit weiterentwickeln wollen, können kaum noch diskutiert werden. Auch fehlt ihr die Zeit für die Einarbeitung der Springkräfte, die stundenweise in der Einrichtung aushelfen, ohne die pädagogischen Konzepte vor Ort zu kennen – von den Ritualen beim Mittagstisch bis zu den Grundsätzen im Morgenkreis.

Und schließlich fehlt ihr die Zeit für die jährlichen Elterngespräche. „Unser Arbeitsalltag ist zurzeit vor allem geprägt von einem so drastischen Fachkräftemangel, wie ich ihn noch nie erlebt habe.“ Fünf Kolleginnen und Kollegen haben Ende 2021 aufgehört. Neue zu finden, ist fast aussichtslos. Auf 100 offene Stellen in der Region gab es gerade einmal zwei Bewerbungen. Gröning: „Das liegt auch an den Arbeitsbedingungen in unserem Beruf.“

Seit 2013 arbeitet sie als Erzieherin in einer kommunalen Kita in Rheinland-Pfalz. Die 33-Jährige liebt ihren Job, die Arbeit mit Kindern, den Austausch mit Eltern, den Arbeitsalltag, in dem kein Tag ist wie der andere. Bewusst hat sie sich für den öffentlichen Dienst entschieden. Gröning: „Der Träger ist weltanschaulich neutral, die politisch Verantwortlichen sind gewählt, die Einrichtung ist mit dem direkten Wohnumfeld vernetzt und eine unbefristete Stelle war sicher.“

„Wir brauchen einen verbindlichen Rahmen, der uns ermöglicht, gesund in unserem Beruf zu arbeiten und dafür angemessen bezahlt zu werden.“ (Kathrin Gröning)

Bereut hat Gröning ihre Entscheidung nicht. Und doch gerät sie im Alltag immer wieder an den Rand ihrer Kräfte, vor allem seit dem Weggang der fünf Mitarbeitenden und, natürlich, durch die Belastungen in der Corona-Krise. Mal Notbetreuung, mal feste Gruppen, mal Wechselgruppen, Elterngespräche nur per Telefon. Ihre Gruppe leitet sie nicht mehr im Team, wie sonst üblich, sondern alleine. Neben Springkräften muss die Einrichtung den Alltag inzwischen auch mit Kita-Helfenden ohne Basisqualifikation stemmen. „In der Pandemie gibt es viel Applaus für uns, aber es fehlen Taten“, sagt Gröning. „Wir brauchen einen verbindlichen Rahmen, der uns ermöglicht, gesund in unserem Beruf zu arbeiten und dafür angemessen bezahlt zu werden.“

Unterschiedliche Eingruppierungen

Ist es angemessen, dass Erzieherinnen und Erzieher in der Entgeltgruppe (EG) S 8a eingestuft werden? Gröning rechnet vor: 3.000 Euro brutto, macht bei Steuerklasse I für sie als Unverheiratete weniger als 1.900 Euro netto im Monat. „Mehr als eine 60-Quadratmeter-Wohnung ist davon für meinen Partner und mich undenkbar. Und die können wir uns nur leisten, weil wir beide verdienen und keine Kinder haben.“ Die Aussicht auf ihre Rente bereitet Gröning schon heute unruhige Nächte. „Derzeit habe ich Anspruch auf genau 1.360,22 Euro – bei einer in 30 Jahren zu erwartenden Kaufkraft von etwa 60 Prozent des derzeitigen Niveaus.“ Wie soll das reichen?

Zudem will es der Erzieherin nicht in den Kopf, warum Kommunen unterschiedlich eingruppieren. „Es ist ungerecht, wenn die eine Kommune die Arbeit ihrer Fachkräfte als ,einfache‘, die andere als ,schwierige Tätigkeit‘ klassifiziert und einmal nach S 8a, einmal nach S 8b bezahlt, zum Beispiel, weil die Kita einen hohen Prozentsatz von Familien mit Migrationshintergrund hat. Dabei gibt es in keiner Kita ,einfache Tätigkeiten‘.“ Der Unterschied zwischen diesen Gehaltsgruppen kann je nach Berufserfahrung bis zu 400 Euro brutto betragen. Genauso wenig nachvollziehen kann Gröning die Eingruppierung von Kita-Leitungen. „Sie richtet sich nach der Zahl der Kinder in der Einrichtung, berücksichtigt aber nicht, wie viele Kinder betreut werden müssen, die jünger als drei Jahre sind. Für diese Mädchen und Jungen braucht es mehr Personal.“

Gerd Schnellinger, stellvertretender Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Bayern, und Gruppenleiter einer Behindertenwerkstatt. (Foto: Daniel Karmann)

Gerd Schnellinger habe noch Glück gehabt, findet er. Seit 38 Jahren arbeitet er in einer Werkstatt für behinderte Menschen bei einer Einrichtung der Lebenshilfe in Bayern. Der 61-Jährige fällt unter den alten Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, den TVÜ, der den Beschäftigten den Besitzstand nach den Tarifregelungen im Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) sichert. Deshalb wird er nach den alten Dienstaltersstufen bezahlt. „Die Jüngeren haben es schwerer“, sagt Schnellinger. Sie sind als Gruppenleiterinnen oder -leiter in der Regel in EG S 7 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst Sozial- und Erziehungsdienst eingestuft. Das heißt für Einsteigerinnen und Einsteiger derzeit rund 2.800 Euro brutto, für Gruppenleitungen in Endstufe 6 der EG S 7 3.850 Euro brutto im Monat. Es gebe kaum Perspektiven für die Jungen: Aufstiegsmöglichkeiten? Neue Herausforderungen? „Kaum, deshalb wechseln einige als Erzieher und Erzieherinnen in Wohnheime, hier bekommen sie Schichtzulagen.“

Ursprünglich hat Schnellinger Elektriker gelernt. Aber schnell merkte er, dass ihm die Arbeit mit „Menschen lieber ist als die an toten Maschinen“. Den Alltag von Werkstätten kannte er aus dem Zivildienst, er entschied sich für den Wechsel und absolvierte berufsbegleitend eine sonderpädagogische Zusatzausbildung. Anerkannt als vollwertige Berufsausbildung ist diese bis heute nicht, aber er konnte damit bei der Lebenshilfe einsteigen. Schnellinger: „Seit 2015 gibt es eine zweijährige duale Ausbildung zur Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung. Dafür haben wir gekämpft.“ Wer diese Ausbildung in der Tasche hat, soll künftig besser bezahlt werden, fordern die Gewerkschaften in der aktuellen Tarifrunde – nach S 8b.

Morgens um 7.30 Uhr steht Schnellinger also nun seit 38 Jahren in der Werkstatt. Fährt den Computer hoch, erledigt Orga-Kram, bespricht mit seinen vier Kollegen und Kolleginnen den Tag. Wer hat was in der Gruppe vor? Wer führt die Corona-Tests durch? Schnellinger ist Leiter einer Gruppe mit 26 behinderten Menschen mit „erhöhtem Betreuungsbedarf“, jene, die ganz einfache handwerkliche Arbeiten erledigen, oft schwer am Platz sitzen bleiben oder sich äußern können. Der Betreuungsschlüssel in Werkstätten für behinderte Menschen in Bayern: 1:12. „Das ist viel zu wenig, ein Schlüssel von 1:10 wäre nötig.“

Reformen sind überfällig.

In seiner Gruppe arbeitet Schnellinger „vorwiegend pädagogisch“, wie er sagt. „Wir üben Sozialverhalten, zuhören lernen, ermutigen selbst zu erzählen, trainieren die Ausdrucksfähigkeit.“ Es gibt einen Morgenkreis, gemeinsame Vesperzeiten, Arbeitsblöcke, in denen Lieder gesungen, Geschichten erzählt oder Waldspaziergänge unternommen werden. Einige Menschen brauchen pflegerische Unterstützung, beim Toilettengang, mit Inkontinenzeinlagen, beim Essen am Mittagstisch. „Wichtig ist uns, jeden ernst zu nehmen: Was kann der Mensch, wo können wir anknüpfen und im individuellen Tempo weiterentwickeln, auch wenn etwa am Tisch mal drei Tropfen daneben gehen.“ Das erfordert Geduld, Verständnis, pädagogisches Feingefühl. Umso mehr ärgert es Schnellinger, dass diese Arbeit nicht als „schwierige fachliche Tätigkeit“ anerkannt und daher mit S 7 eingestuft wird.

Zudem muss Schnellinger immer mehr Zeit mit Dokumentation verbringen, um den individuellen Förderbedarf jedes seiner Schützlinge belegen zu können. Wertvolle Zeit, die für die direkte Arbeit mit den behinderten Menschen fehlt.

Gruppenleiter Schnellinger und Erzieherin Gröning sind sich einig. Schnellinger: „Reformen sind überfällig, wenn wir uns nicht weiter am Limit durchhangeln wollen. Mit besserer Bezahlung, festen Stellenplänen und einem besseren Personalschlüssel pro Einrichtung könnten wir unsere Arbeit auf eine solide Grundlage stellen – und qualifiziertes Personal gewinnen.“ Gröning: „Nach zwei Jahren Pandemie ist allen klar, was die Kitas für die Gesellschaft leisten. Das sollte endlich honoriert werden.“ Selbst wenn es einen Streik braucht. „Im Elternausschuss haben wir schon klar gemacht: Das hat nichts mit euch zu tun. Wir wollen immer für euch da sein.“