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Deutsches Schulsystem

So reformresistent wie der Vatikan?

„Viel zu lange wurde in Deutschland Schule auf Unterricht reduziert und nicht als sozialer Lern- und Lebensort begriffen“: E&W sprach mit Marianne Demmer, ehemals GEW-Vorstandsmitglied Schule, über notwendige Lehren aus der Corona-Pandemie.

Karikatur: Christiane Pfohlmann
  • E&W: In einen Beitrag für die Schriftenreihe „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“* blicken Sie auf 100 Jahre Schulreform in Deutschland zurück. Ausgangspunkt ist die Reichsschulkonferenz 1920. Was damals diskutiert wurde, ist auch heute noch aktuell – zum Beispiel die Forderung nach der Einheitsschule. Nur in der DDR wurde diese Forderung umgesetzt, und eine der ersten Entscheidungen nach der Einheit war die Wiedereinführung des gegliederten Schulsystems sowie des Gymnasiums auch in den damals so genannten fünf neuen Bundesländern. Im Vorwort Ihrer Schrift heißt es: „Schools change slower than churches“. Ist das deutsche Schulsystem so resistent gegen Reformen wie der Vatikan?

Marianne Demmer: Ganz so pessimistisch bin ich dann doch nicht. Dass Schulreformen in Deutschland so lange brauchen, hat mehrere Gründe. Eine These ist, dass es grundlegende Änderungen im Schulsystem nur bei grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Änderungen geben kann. Die Novemberrevolution 1918 schaffte die Voraussetzung dafür, dass man sich auf der Reichsschulkonferenz 1920 Gedanken über eine radikale Schulreform machen konnte und die damals schon seit 80 Jahren erhobene Forderung nach einem gemeinsamen Schulunterricht überhaupt eine Chance bekam. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es erneut eine historische Chance für einen Wandel, denn alle vier alliierten Siegermächte plädierten für ein Einheitsschulsystem. In den Westzonen gelang es aber den Konservativen, eine gemeinsame Entwicklung zu verhindern. Die Bildungsreformen im Westen in den 1960er- und 1970er-Jahren – ausgelöst durch den sogenannten Sputnik-Schock und die Angst vor einem Akademikermangel – blieben auf halber Strecke stecken; sie waren aber ein Anfang.

  • E&W: Eine erneute Chance gab es 1989/90 mit der Wende in der DDR und der deutschen Vereinigung. Warum wurde diese nicht genutzt?

Demmer: Dass man die Chance nicht genutzt hat, die Schulstruktur der DDR zu übernehmen sowie die Lehr- und Lernkultur zu demokratisieren, lässt sich vor allem machtpolitisch erklären – die DDR war einfach zu schwach, und das mehrgliedrige Schulsystem symbolisierte und untermauerte den kultur- und bildungspolitischen Hegemonialanspruch Westdeutschlands.

  • E&W: Das deutsche Schulsystem ist nach wie vor von Mehrgliedrigkeit gekennzeichnet. Trotz aller Bemühungen von Schulreformerinnen und -reformern hat das Gymnasium in einem oft zweigliedrigen Schulsystem überlebt. Wie soll sich die Gesamtschule bzw. eine auf längeres gemeinsames Lernen orientierte Schulform da durchsetzen?

Demmer: Das Problem der Gesamtschulen war von Anfang an, dass sie sich in einem mehrgliedrigen Schulsystem behaupten mussten. Es gab nur ganz wenige Regionen in der Bundesrepublik, in denen die Gesamtschule die einzige angebotene Schulform war. Dort, wo es so war, wurde sie von der Bevölkerung angenommen, weil sie sowohl hinsichtlich der Leistungen als auch des pädagogischen Konzepts überzeugen konnte. Heute geht der Elternwille in vielen Regionen zwar immer stärker in Richtung Gymnasium bzw. Abitur. Paradoxerweise ist das aber eine Chance für Gesamt- und Gemeinschaftsschulen. Im Osten Deutschlands, aber auch in vielen ländlichen Gegenden im Westen, haben Kommunen aufgrund sinkender Schülerzahlen Probleme, ein wohnortnahes Angebot für mehrere Schulformen anzubieten. Die Lösung könnten Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen mit allen Bildungsabschlüssen sein.

  • E&W: Die Corona-Pandemie hat die Schwachstellen des deutschen Schulsystems offengelegt. Kann diese Erfahrung zu einem Umdenken in der Schulpolitik führen?

Demmer: Ich hoffe es. Viel zu lange wurde in Deutschland Schule auf Unterricht reduziert und nicht als sozialer Lern- und Lebensort begriffen. Wir haben während der Pandemie gesehen, dass für die meisten Kinder das Schlimmste war, dass sie im Lockdown ihre Freundinnen und Freunde nicht mehr treffen konnten. Allerdings sehe ich auch die Gefahr, dass sich traditionelle Vorstellungen wieder durchsetzen und es nur darum gehen wird, noch mehr Lehrstoff in noch kürzerer Zeit mit überholten Methoden zu pauken. Die Chance für Reformen ist dennoch da, denn die Tatsache, dass in der Pandemie die eh schon sozial Benachteiligten noch weiter abgehängt wurden, hat der Forderung von Linken, Grünen und auch Teilen der SPD nach mehr Chancengleichheit im Bildungssystem Nachdruck verliehen. Hier sind auch die Gewerkschaften gefordert.

  • E&W: Auf welche Akteure setzen Sie noch?

Demmer: Ein wenig auch auf die Kultusministerkonferenz (KMK). Dem im vergangenen Jahr einberufenen Bildungsrat der KMK gehören durchaus Menschen an, die dem längeren gemeinsamen Lernen offen gegenüberstehen. Meine größte Hoffnung sind allerdings repräsentativ zusammengesetzte Bürgerräte, die auf kommunaler Ebene aktiv werden können. Das größte Hindernis auf dem Weg zu einer inklusiven, demokratischen Schule besteht nämlich darin, dass sich im konservativen Lager die schulpolitischen Positionen quasi von Generation zu Generation vererbt haben und deshalb öffentlich seit Jahrzehnten die gleichen Vorurteile gegen das gemeinsame Lernen immer und immer wieder wiederholt werden. Bürgerräte könnten diese Struktur aufbrechen.

  • E&W: Die Gefahr, dass in solchen Bürgerräten wieder die Bildungs-arrivierten sowie die Vertreterinnen und Vertreter des Gymnasiums dominieren, sehen Sie nicht?

Demmer: Nein, denn diese Bürgerräte müssten natürlich repräsentativ zusammengesetzt sein, und die Teilnehmenden würden ausgelost. Damit wäre gewährleistet, dass nicht nur die Lautsprecher und das Bildungsbürgertum zu Wort kommen. Solche Bürgerräte und der Lehrkräftemangel können die Treiber für eine grundlegende Strukturreform sein, andere sehe ich derzeit nicht. Allerdings müssen die bestehenden Schulen des längeren gemeinsamen Lernens nach wie vor als gute Beispiele zeigen, dass sich Lernqualität und mehr Chancengleichheit gegenseitig bedingen und nicht ausschließen.

*Marianne Demmer: „1920 – 2020. Schulreform in Deutschland. Eine (unendliche) Geschichte?!“ Schriftenreihe „Eine für alle – Die inklusive Schule“, Heft 7, Aktion Humane Schule, Mai 2021, 168 S.

Marianne Demmer war von 1997 bis 2013 Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der GEW, von 2005 bis 2013 deren stellvertretende Vorsitzende. Die gelernte Grund- und Hauptschullehrerin sagt von sich: „Ich bin eine typische Bildungsreserve: weiblich, vom Lande und erste Akademikerin in der Familie.“ (Foto: xxx (angefragt)