Islamismus an Schulen
Singen ist nicht „halal“
An einem Gymnasium im Bonner Stadtteil Bad Godesberg übt eine Minderheit salafistisch indoktrinierter Schüler Druck auf Mitschülerinnen und Mitschüler aus. Welche Rolle spielt der islamistische Extremismus an Schulen?
Das Nicolaus-Cusanus-Gymnasium (NCG) in Bonn-Bad Godesberg ist schon statistisch gesehen ein besonderes Gymnasium. 85,7 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben eine Zuwanderungsgeschichte. Eine Herausforderung für eine Schule mit inklusivem Anspruch. Zudem zählen die 85,7 Prozent größtenteils zur muslimischen Community Godesbergs, in der sich in weiten Teilen seit Jahren eine reaktionäre Lesart des Islam verfestigt hat, sodass der Deutschlandfunk den Stadtteil schon 2016 zur „Salafistenhochburg“ erklärte. Dass die Situation sich seither eher verschlimmert hat, bestätigen neun Jahre später Sybille Kraft*, Jürgen Weber* und Marc Müller*, die am NCG unterrichten: Natürlich sei Salafismus nicht das alles bestimmende Problem an ihrer Schule, doch die vermeintlichen Gebote der Religion beeinträchtigten zunehmend den Schulalltag.
Selbst Ausflüge und Klassenfahrten seien nur noch unter massiv erschwerten Bedingungen möglich, berichtet Müller. „Die Mädchen bringen Atteste. Und die immer gleichen Ärzte stellen die aus.“ Auch in den Pausen werde ständig erörtert, ob ein Mädchen zu viel Haut oder Haar zeige und damit nicht mehr als echte Muslima, als „halal“, durchgehe. „Haram“ und „halal“ als Kompass des Schulalltags. „Haram“ sind der Sport- und der Musikunterricht: Nachdem ihm in zwei E-Mails der Tod gewünscht worden war, hat Musiklehrer Georg Scholz* den Dienst quittiert. Sein Vergehen: Er hatte einen Chor geleitet. Aber Singen, so sahen es die tonangebenden Jungs in der Schule, sei nicht „halal“. Scholz‘ Stelle wurde nicht neu besetzt.
„Ein kleiner Teil unserer Schüler lebt in zwei Welten. Morgens machen wir Unterricht. Wenn die Wohnungstür zu ist, herrscht die Scharia.“ (Sybille Kraft)
„Natürlich nicht“, sagt Weber, den das Schicksal des ehemaligen Kollegen umtreibt: „Wie soll das weitergehen, wenn schon jetzt in den Klausuren Fragen nach den griechischen Göttern unbeantwortet bleiben?“ Zudem würden „die Kopftücher und religiösen Gewänder immer mehr“, Schülerinnen, die sich anders kleiden, gerieten unter Druck. Gar nicht „halal“ ist Homosexualität. Ein Schüler tönte, „dass er seinen Bruder, wenn der schwul wäre, wie einen Hund ertränken“ würde. „Ein kleiner Teil unserer Schüler lebt in zwei Welten“, seufzt Kraft. „Morgens machen wir Unterricht. Wenn die Wohnungstür zu ist, herrscht die Scharia.“
Immer mehr Lehrkräfte resignieren
Andere muslimische Eltern wiederum seien entsetzt, wenn sie hörten, welche Ansichten ihre Kinder vertreten. Viele von denen radikalisierten sich durch die zahlreichen Laienprediger vor Ort, berichten die drei Lehrkräfte. Aber auch durch YouTube, TikTok und Co. – Biotope für Fanatiker aller Art. Auch am NCG seien in keiner Klasse mehr als zwei, drei radikalisierte Schüler. Doch diese ließen oft genug das Klima in ihre Richtung kippen, aus ursprünglich zwei Radikalen könne dann schnell die Mehrheit werden.
Neben der religiösen Komponente gibt es einen zweiten Faktor, der das Unterrichten am NCG schwierig macht: die soziale Spaltung. Die Politik habe „in der Stadt und in der Schule eine Ghettobildung zugelassen“ und tue nichts für die soziale Durchmischung in den Schulen, findet Kraft: Es gebe Straßenzüge, in denen fast alle Menschen von Transferleistungen leben. Wer vom Bahnhof zum NCG will, geht zuerst durch ein „Villenviertel“ – und landet dann an einer heruntergekommenen Schule, deren Fassade komplett eingerüstet ist. „Meine ganze Schulzeit über stand um die Fassade herum ein Zaun, damit niemand von einem Stein getroffen wird“, erinnert sich Jan Bold*, ein ehemaliger Schüler. Viele seiner Lehrkräfte hat er hingegen als „total engagiert“ in Erinnerung. „Aber immer mehr resignieren.“ Das bestätigen auch Kraft, Weber und Müller: Im Kollegium häuften sich die Burn-outs und die Krankmeldungen; mehrere Lehrerinnen und Lehrer hätten eine Versetzung beantragt.
Früher waren religiös motivierte Konflikte Einzelfälle
Auch Oliver Henkel, dessen Kinder hier Abitur gemacht haben, hatte bei den meisten Lehrkräften „ein gutes Gefühl“. Und er hat „nie bereut, dass die drei am NCG waren“. Bis vor sechs Jahren war er in der Elternvertretung, damals waren „religiös motivierte Konflikte noch Einzelfälle“, wichtiger war etwas anderes: „Meine Kinder haben einen völlig selbstverständlichen Umgang mit muslimischen Menschen gelernt. Was das Zuckerfest bedeutet, muss ihnen niemand erklären.“
Die drei Lehrkräfte klingen zuweilen ebenfalls stolz auf ihre Schule. Immer wieder betonen sie, dass es hier „viele tolle Schüler“ gebe. Und dass man am NCG wenigstens aufs echte Leben vorbereitet werde – und nicht auf das in einer Privilegierten-Blase: Vor Ort gibt es zwei staatliche und fünf private Gymnasien. Eine Muslima aus Godesberg, heute selbst Lehrerin, antwortet auf die Frage, wo sie Abitur gemacht habe, dann auch sarkastisch: „Wo wohl? Am NCG natürlich, ich wurde ja sonst nirgends genommen.“
Schwerpunkt der Bonner Salafisten-Szene
Wie Godesberg wurde, wie es ist, versuchte schon 2018 „Die Zeit“ zu ergründen: „Im alten Diplomatenviertel Bad Godesberg tragen etliche Frauen nicht nur Kopftücher, sondern Nikabs – die Gesichtsschleier, die höchstens einen schmalen Schlitz für die Augen übriglassen.“ Manche von ihnen seien, so die Wochenzeitung weiter, Medizintouristinnen aus der Golfregion, die ihre Männer begleitet hätten, die sich im renommierten Bonner Uniklinikum operieren ließen. Zu ihnen würden sich arabischstämmige Geflüchtete gesellen, „die sich auch in dem konservativen Milieu wohlfühlen“.
Zudem stand in Godesberg jahrzehntelang die König-Fahd-Akademie – benannt nach dem 2005 verstorbenen König von Saudi-Arabien, Fahd bin Abdulaziz Al Saud –, in der nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes gegen den Westen und Juden gehetzt und zum Dschihad aufgerufen wurde. Als sie 2017 geschlossen wurde – von Saudi-Arabien, nicht von deutschen Behörden –, war ihre Saat längst aufgegangen: Die Salafistenszene in Bonn wird auf 350 Personen geschätzt, 40 davon gelten als Gefährder. Schwerpunkt der Bonner Salafisten-Szene laut Verfassungsschutz: Godesberg.
Der Bonner GEW-Vorsitzende Rolf Haßelkus unterrichtet an einer Realschule und kennt vieles, was die Kollegen aus dem NCG erzählen, aus eigener Anschauung. Schon vor Jahren fragte er einen Schüler, der an einem salafistischen Infostand agitierte, ob er wisse, dass die Organisation den terroristischen Islamischen Staat (IS) unterstütze. „Das sei seine Privatsache“, antwortete er. „Und dass er mir den Salafisten Pierre Vogel auf den Hals hetze, wenn ich weiter nerve.“
Viele Mädchen radikalisieren sich
Während einer Debatte, die Haßelkus Mitte März im Gewerkschaftshaus mit Lehrkräften aus dem Bonner Raum organisiert hatte, bestätigte sich, was zuvor die drei Kolleginnen und Kollegen vom NCG gesagt hatten: Die Zustände an ihrer Schule mögen erschreckend sein. Aber Aufsehen erregten sie nur, weil das NCG ein Gymnasium ist. In anderen Schulformen seien die Probleme seit langem virulent. Dass der Islamismus auf dem Vormarsch ist, forciert von wenigen jungen Männern, berichten alle. „Das hat auch mit toxischer Männlichkeit zu tun“, sagt eine Lehrerin. Konsens herrscht aber auch, „dass sich gerade viele Mädchen radikalisieren. Eine von ihnen, mit hoher sozialer Kompetenz, organisiert heute die Hamas-Unterstützung“. Da platzt einem anderen Kollegen der Kragen: „Wäre schön, wenn die Antifa mal nicht nur gegen deutsche, sondern auch gegen nicht-deutsche Faschisten kämpft.“ Der Islamismus als blinder Fleck der politischen Linken.
„Da hätte die Schulleitung radikal einschreiten müssen. Es liegt nicht an den Regeln. Sie werden nur nicht durchgesetzt.“ (Jürgen Weber)
Es bleiben Fragen offen. Ob die Jugendlichen auch deshalb zum Islam konvertieren, weil die Religion in einem Land, in dem auch liberale Muslime unter Kollektivverdacht gestellt werden und antimuslimischer Rassismus oft noch tabuisiert wird, Sicherheit gibt? Oder findet die Islamisierung doch unter Druck statt? Der Schüler Bold berichtet jedenfalls von einer Mitschülerin, die in der Schule plötzlich Kopftuch trug – und die es nach ihrem Wegzug aus Godesberg sofort wieder abnahm. Im NCG wollten sich derweil die meisten männlichen Abiturienten bei der Zeugnisübergabe nicht per Handschlag von einer Frau gratulieren lassen, in der Abizeitung posierte die Mehrheit der jungen Männer mit emporgerecktem Zeigefinger, einer eigentlich politisch unverdächtigen Geste aus dem klassischen Islam, die aber seit einigen Jahren auch von Islamisten als Erkennungszeichen benutzt wird. „Da hätte die Schulleitung radikal einschreiten müssen“, sagt Weber. „Es liegt nicht an den Regeln. Sie werden nur nicht durchgesetzt.“
„Was im NCG passiert, passiert an vielen anderen Schulen im Stadtgebiet.“ (Ahmed Akdogan)
Das findet auch ein Mann, der bis vor kurzem als Sozialarbeiter in Bonn gearbeitet hat. „Was im NCG passiert“, sagt Ahmed Akdogan, selbst gläubiger Muslim, „passiert an vielen anderen Schulen im Stadtgebiet.“ Bessern werde sich das erst mit viel mehr Personal. Und mit klaren Leitplanken. Die wichtigste: „Schule ist Schule, Religion ist Privatsache und hat dort nichts verloren.“
Gerne hätte E&W die Direktorin des NCG, Nicole Auen, gefragt, wie sie das alles sieht. Ob es stimmt, dass sie die Probleme an der Schule lieber aussitzt, als diese anzugehen. Und ob sie wirklich nicht einmal den Brief einer Zwölfjährigen beantwortet hat, in dem diese ihr ihr Leid geklagt hatte. Doch die Antwort auf die Anfrage umfasste nur einen Satz. Für „die Beantwortung solcher Fragen“ stehe sie „nicht zur Verfügung“, schrieb sie. Dass es genauso kommen würde, hatten Kraft, Weber und Müller vorher prophezeit.
*Namen geändert
1. Überwältigungsverbot
Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.
Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende andere Ansichten kommen ja zum Zuge.
3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren,
sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich erhobene Vorwurf einer „Rückkehr zur Formalität“, um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.
Das hat der Beutelsbacher Konsens damit zu tun
Demokratiebildung ist zentraler Bestandteil des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule. Die Landesschulgesetze beschreiben die Ziele. Lehrkräfte sollen demokratische Werte wie Würde und Gleichheit aller Menschen, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität vermitteln.
Wenn es in der Schule um politische Bildung geht, müssen sich Lehrkräfte nicht neutral verhalten. Es ist wichtig, verschiedene Blickwinkel zu beleuchten. Lehrkräfte sollen auf Basis des Grundgesetzes eine klare Haltung gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Gewaltverherrlichung und menschenverachtende Aussagen zeigen.
Oft fällt das Stichwort ’Beutelsbacher Konsens’. Er ist ein in den 1970er-Jahren formulierter Minimalkonsens für den Politikunterricht in Deutschland. Er darf nicht mit dem parteipolitischen Neutralitätsgebot des Staates verwechselt werden. Der Konsens formuliert drei zentrale didaktische Prinzipien politischer Bildung: das Überwältigungs- bzw. Indoktrinationsverbot, das Kontroversitätsgebot sowie das Ziel, dass Schüler*innen zur politischen Teilhabe befähigt werden sollen. Lehrkräfte dürfen ihre eigene politische Meinung ausdrücken, diese aber nicht als allgemeingültig darstellen. Kontroverse Themen müssen multiperspektivisch behandelt werden.