Zum Inhalt springen

Europawahl

Seniorinnen und Senioren Europas, vereinigt euch!

Vom 23. bis 26. Mai wählen rund 400 Millionen Europäer ein neues Parlament. Dessen künftiger Kurs muss die Älteren ins Visier nehmen. Schon heute ist fast jeder fünfte Europäer älter als 65 Jahre, 2050 wird es mehr als jeder vierte sein.

Foto: Pixaby / CC0

Seniorenpolitik muss in der Europäischen Union (EU) wichtiger werden. Aber was kann die EU überhaupt für ältere Menschen tun? Was macht sie bereits heute für die Älteren? Ein Gespräch mit Philippe Seidel Leroy von der AGE Platform in Brüssel

  • E&W: Herr Seidel Leroy, spielt die EU für das Leben Älterer überhaupt eine Rolle?

Philippe Seidel Leroy: Oh ja, nur ist vieles nicht direkt sichtbar. Beispiel Altersdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Die EU verbietet, Altersgrenzen in Jobanzeigen festzulegen und Ältere bei der Bewerberauswahl zu benachteiligen. Manches geht uns allerdings noch nicht weit genug. Wieso darf im Cockpit von Passagierflugzeugen nur einer von zwei Piloten über 60 Jahre alt sein? Wir setzen uns für individuelle Gesundheitstests ein, denn die Leistungsfähigkeit von Menschen ist höchst unterschiedlich, egal ob sie 40 oder 60 sind. Diesen Monat verabschiedet die EU auch eine neue Richtlinie für Barrierefreiheit, damit beispielsweise Menschen mit Hör- oder Sehproblemen überall in Europa Bezahlterminals leichter bedienen können.

  • E&W: Stellt die EU Weichen für die soziale Absicherung Älterer?

Seidel Leroy: Absolut. Sie sorgt dafür, dass sich jeder, der im Ausland gearbeitet hat, seine Rentenansprüche in der Heimat anrechnen lassen kann; Details dazu werden gerade weiterentwickelt. Die EU regelt europaweite Gesundheitsdienstleistungen. Wer im Urlaub in Spanien ins Krankenhaus muss, wird genauso behandelt wie ein Spanier. Das Krankenhaus darf ihn weder ablehnen, noch mehr Geld verlangen.

  • E&W: Zum altersgerechten Arbeiten kann die EU dagegen keine Gesetze erlassen.

Seidel Leroy: Nein, das ist Aufgabe der Mitgliedsstaaten. Aber die EU fördert die europaweite Diskussion darüber. So hat die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz 2016 eine Kampagne zum Thema Arbeitsplätze für alle Altersgruppen gestartet. Mit Praxisbeispielen aus Betrieben aus allen Ländern will die EU Arbeitgeber anregen, Altersmanagement in ihrem Unternehmen zu verbessern.

  • E&W: Schon heute ist fast jeder -fünfte Europäer älter als 65, 2050 wird es -voraussichtlich mehr als jeder vierte sein. Wird Seniorenpolitik in Europa -damit wichtiger?

Seidel Leroy: Schon, aber bislang fehlt eine systematische, breit angelegte Strategie. Um das Thema Rente beispielsweise kümmern sich zwei Generaldirektionen (entspricht Ministerien, Anm. d. Red.): die für Wirtschaft und die für Soziales. Aufgabe der Wirtschaftsdirektion ist, die nationalen Budgets unter Wachstums- und Stabilitätskriterien zu untersuchen. Daher analysiert sie die nationalen Rentensysteme, errechnet, was das Land die Alterung kostet und wie man es vielleicht besser machen könnte. Die Sozialdirektion dagegen hat nur die sozialen Aspekte im Blick: Wie leben die Menschen, sind die Renten angemessen, um in Würde alt zu werden? Die Empfehlungen der beiden Institutionen sind daher oft völlig unterschiedlich.

  • E&W: Sollte man sie zusammenführen?

Seidel Leroy: Dafür setzen wir uns ein. Europa muss sich dem Phänomen der Alterung endlich grundsätzlich nähern. Beispiel Rente: Es reicht nicht, das Rentenalter raufzusetzen, damit die Rentensysteme finanzierbar bleiben. Denn der Arbeitsmarkt wird die Älteren kaum alle aufnehmen können. Wir müssen also neue Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt schaffen, damit Ältere tatsächlich länger arbeiten können und Arbeitsplätze alternsfreundlicher machen. Zum Glück rücken solche Zusammenhänge nun zunehmend auf die Agenda der europäischen Seniorenpolitik. Jetzt muss investiert werden.

  • E&W: Bei den Europawahlen könnte sich die Zusammensetzung des Parlaments entscheidend ändern. Rechtspopulistische und euroskeptische Parteien legen zu. Was könnte das für die EU bedeuten?

Seidel Leroy: Das Wahrscheinlichste: Die Anschauungen in Parlament und Europäischem Rat gehen so weit auseinander, dass Kompromisse unmöglich werden. Die EU würde blockiert, der Status quo verlängert, Neuerungen wären nicht mehr durchzusetzen. Ich glaube allerdings nicht, dass es zu einem Abbau grundlegender Errungenschaften kommen wird. Zumindest nicht, solange kein anderes großes Mitgliedsland aussteigt. Der Brexit hat ja durchaus gezeigt, dass die EU-Länder zusammenrücken und bereit sind, ihre Errungenschaften zu verteidigen.

  • E&W: Was wollen die Seniorenorganisationen in der nächsten Legislaturperiode erreichen?

Seidel Leroy: Das Verbot von Altersdiskriminierung vorantreiben, die europäische Kooperation in der Gesundheitspolitik verbessern. Die EU finanziert viele wissenschaftliche Projekte zur Demenz oder zu seltenen Krankheiten, deren Erforschung sich kein Mitgliedsland alleine leisten könnte. Auch Prävention wird zunehmend wichtig. Im Moment verhandelt das Parlament über das Budget für diese Forschungen. Die Ausgaben von 2021 bis 2028 werden festgelegt. Dass dieses Geld richtig investiert wird, ist für Ältere besonders wichtig.

  • E&W: Wohin sollte es denn fließen?

Seidel Leroy: Vor allem in den Aufbau und die Entwicklung der Pflege. Auch die Mittel aus dem europäischen Sozialfonds könnten dafür genutzt werden; wir entwickeln gerade Vorschläge für entsprechende EU-Regelungen. Wir müssen in Europa für eine qualitativ hochwertige Pflege sorgen. Bislang werden Pflegemöglichkeiten in Europa meist gar nicht gemessen, es fehlen gemeinsame Standards für den Zugang und die Qualität der Pflege. Statt großer Anstalten, die jede Freiheit rauben, brauchen wir Konzepte, die Selbstbestimmung fördern. Die Menschen sollen so lange wie möglich in ihrem Umfeld bleiben und aktiv am Leben teilhaben können.

  • E&W: Generell: Wie können Ältere Europa aktiv mitgestalten?

Seidel Leroy: Indem sie ihre Vorstellungen in die Debatte tragen. Deshalb rufen wir zurzeit unsere Mitgliedsorganisationen auf: Macht Europa zum Thema in eurer Organisation. Und sie reagieren. Unsere Mitgliedsorganisationen aus Malta und Frankreich etwa organisieren gerade Diskussionen mit politischen Parteien, die deutsche Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) hat ein Manifest zur Europawahl geschrieben und Videos gemacht, um Ältere zur Wahl zu motivieren. Wenn es uns langfristig gelingt, Menschen in einer europäischen Seniorenbewegung zusammenzubringen, ist viel erreicht.

GEW-Vorstandsmitglied Frauke Gützkow (Foto: Kay Herschelmann)

GEW-Kommentar: Europa der Generationen

Schon diese Zahlen verraten viel über Europa: 1954 – die nationalen Fußballverbände schließen sich zur UEFA (Union of European Football Associations) zusammen; 1956 – European Songcontest, der erste europäische Gesangswettbewerb; 1972 – Interrail, mit der Bahn unkompliziert durch Europa reisen. Von Anfang an war die europäische Integration mehr als ein wirtschaftlicher und politischer Zusammenschluss. Es ging ebenso darum, kulturell und gesellschaftlich zusammenzuwachsen. Vielleicht ist das vereinte Europa auch deshalb heute so selbstverständlich. Alltag halt.

Das war nicht immer so. Für mich, 1961 geboren, war dieses Europa im Sozialkunde-Leistungskurs schon eine spannende, aber auch abstrakte Sache. Dann durfte ich zum ersten Mal wählen: 1979, bei der ersten Europawahl. Plötzlich wurde Europa konkret. Noch konkreter wurde es auf Reisen. Frankreich, Portugal, Irland – viele Menschen der älteren Generation haben wie ich Europa erst spät entdeckt. Studieren im europäischen Ausland? Das war für die in den 1950er-Jahren Geborenen alles andere als selbstverständlich. Von den Jungen wird es heute erwartet. Wer 30 Jahre alt ist, hat nicht einmal den Kalten Krieg erlebt. Wie wir Europa sehen, was wir von ihm erwarten, ist auch eine Generationenfrage.

Deshalb ist der generationenübergreifende Dialog genauso wichtig wie der Austausch mit Menschen in anderen europäischen Ländern. Vielfalt bereichert, das erleben wir in der Zusammenarbeit mit europäischen Gewerkschaften, in Projekten, auf Konferenzen, in Komitees. Die Vorstellung von Gleichstellung, Arbeitsleben, Altern ist in Schweden eben anders als in Litauen oder auf Sizilien, in Portugal anders als in Tschechien oder Zypern. Wir können voneinander lernen, wenn wir diesen Dialog systematisch fördern.

Und das Gespräch zwischen den Generationen? Es kann überall stattfinden, in der Familie, am Arbeitsplatz, im Verein. Wir müssen es nur suchen; neugierig sein auf die Perspektiven der Jungen. Wie erlebt Ihr Europa? Was wünscht Ihr Euch? Welche Fragen habt Ihr an uns? Das ist die Basis, um gemeinsam Visionen für die Zukunft zu entwickeln. Damit Europa gut für uns alle ist.

Frauke Gützkow, GEW-Vorstandsmitglied Frauen und Senioren