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Förderschulen

Seit langem zu wenig beachtet

Mehr als eine halbe Million Schülerinnen und Schüler in Deutschland erhält sonderpädagogische Förderung. In der aktuellen Pandemie blieben sie zunächst außen vor. Der Regelunterricht ist für alle Beteiligten eine besondere Herausforderung.

Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen benötigen besondere Nähe und Betreuung. Unter Corona-Bedingungen ist das nur eingeschränkt möglich. (Foto: GEW/Shutterstock)

Als Susanne Geller im Mai vergangenen Jahres ihre Schülerinnen und Schüler wiedertraf, machte sie bei manchen eine ungute Beobachtung: Einige Kinder und Jugendliche hatten sich in ihrer Sprache zurückentwickelt, andere wirkten ungewohnt still oder nervös. Auch Eltern waren am Rande ihrer Kräfte: „Viele waren an ihre Grenzen und darüber hinaus gegangen“, sagt die Leiterin der Mosaikschule im hessischen Marburg, „einige Kinder brauchen ja rund um die Uhr Betreuung.“

Die Mosaikschule ist eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung und einer Abteilung für körperlich motorische Entwicklung. „Unsere Schülerinnen und Schüler weisen ein breites Spektrum von autistischen bis Lernstörungen, von geistigen bis zu Mehrfachbehinderungen auf, im Alter von 6 bis 20 Jahren“, erklärt Susanne Geller, „manche machen regelrecht Rückschritte, wenn sie keine spezielle Förderung bekommen.“ Und das, obwohl das digitale Lernen an der Mosaikschule besser ausgebaut sei als an anderen Förderschulen. Geller: „Das Miteinander vor Ort lässt sich häufig nicht digital ersetzen, vor allem nicht für Kinder, die nicht sprechen.“

„Und als die Schulen nach und nach wieder öffneten, schien es, als bestünde Deutschlands Schülerschaft nur aus Abiturienten.“ (Angela Ehlers)

Als die Schulen im März schlossen, war von den mehr als 500.000 Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bundesweit erst einmal gar nicht die Rede: Laut einer Zusammenschau der noch nicht veröffentlichten SOLVE-Studie schrieb nur Baden-Württemberg fest, Schülerinnen und Schüler mit den Schwerpunkten Geistige Entwicklung sowie Körperlich-Motorische Entwicklung dürften in die Notbetreuung kommen. „Und als die Schulen nach und nach wieder öffneten, schien es, als bestünde Deutschlands Schülerschaft nur aus Abiturienten“, kommentiert Angela Ehlers, Bundesvorsitzende des Verbands Sonderpädagogik.

Die Organisation mit bundesweit 8.000 Mitgliedern verwies in einem Brief an die Kultusministerkonferenz (KMK) sowie an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf die „besonderen Unterstützungsbedarfe“, zu denen „in besonderem Maße Lernbedürfnisse von Beziehung, Bindung und persönlicher Nähe“ zählten. Die Antwort der KMK-Präsidentin Stefanie Hubig (SPD), kam prompt: Ziel sei, nach den Sommerferien alle Schülerinnen und Schüler wieder „in einem regulären Schulbetrieb“ zu unterrichten.

„Wir haben sehr kleine Klassenräume. Als wir die Tische auseinandergestellt und jedem Schüler einen Extra-Tisch für eigenes Material dazugestellt hatten, passten nicht mehr alle in ihre Zimmer.“ (Susanne Geller)

Allerdings ist ein regulärer Betrieb in Förderschulen oft weit schwieriger zu gewährleisten als in anderen Schulformen. Zwar dürfen Abstands- und Hygieneregeln, je nach Infektionsgeschehen, in besonderen Fällen aufgehoben werden. „Doch natürlich ist für die Kinder wie für die Kolleginnen und Kollegen wichtig, dass der Abstand eingehalten wird“, sagt Geller, „also hieß es umzubauen, beginnend beim Schultransport.“ Die Schulleiterin verhandelte mit der Stadt über zusätzliche Busse für die tägliche Anfahrt zur Schule. Die Lerngruppen wurden neu organisiert. „Wir haben sehr kleine Klassenräume. Als wir die Tische auseinandergestellt und jedem Schüler einen Extra-Tisch für eigenes Material dazugestellt hatten, passten nicht mehr alle in ihre Zimmer“, so Geller.

Für Risikoschülerinnen und -schüler wurden Extra-Klassen mit nur vier Lernenden gebildet. Der Freitag wurde zudem für Kinder reserviert, die zunächst keinen Abstand halten konnten, und dieser dann in einer 1:1-Betreuung eingeübt. „Das hat bei fast allen geklappt“, sagt Geller; Anfang November wurden nur noch zwei Schüler per Webcam unterrichtet. Mit dem Kollegium der Mosaikschule wurde besprochen, welche zusätzliche Schutzausstattung nötig ist, FFP-2-Masken zum Beispiel. Diese wurden bestellt und für die Schule ein eigener Hygieneplan erarbeitet und im Internet veröffentlicht. „Um Vertrauen zu schaffen, war das wichtig“, erklärt die Schulleiterin, „unter Kolleginnen und Kollegen ebenso wie in der Elternschaft und bei den Schülerinnen und Schülern.“

Kaum barrierefreie Lernprogramme

Karin Grube unterrichtet seit Jahrzehnten Schülerinnen und Schüler mit und ohne Beeinträchtigung an der für ihre Inklusion hochgelobten Integrierten Gesamtschule (IGS) Bonn-Beuel. Aktuell hat sie im Hauptpersonalrat in Düsseldorf alle Hände voll zu tun, die sich zuspitzende Lage zu begleiten: „Seit die Nachverfolgbarkeit von Infektionen nicht mehr gegeben ist, sind die Sorgen der Kolleginnen und Kollegen groß. Und nirgends zeichnet sich ab, dass die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts, etwa nach geteilten Klassen, umgesetzt werden.“ Die Frage, welche besondere Herausforderung das Abstandhalten ist, beantwortet sie differenziert: „Es gibt Schülerinnen und Schüler, bei denen gilt: Was sie einmal gelernt haben, setzen sie äußerst regeltreu um. Es gibt aber auch jene, bei denen Regelbrüche gleichsam Teil ihres Förderstatus sind. Da ist es natürlich schwieriger.“

Für Sonderpädagogin Grube rächt sich nun die seit Jahren anhaltende Vernachlässigung der Bedürfnisse dieser Zielgruppe. „Natürlich war die Lage im Frühjahr desolat. Doch sie wäre besser gewesen, wenn sie nicht auch beim digitalen Lernen meist außen vor blieben.“ An der IGS Bonn-Beuel begleitete sie über fünf Jahre Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen und Geistige Behinderung. Im Regelunterricht, sagt Grube, sei an Schulen des Gemeinsamen Lernens eine spezielle Förderung kaum möglich: „Es gibt zu wenige assistive Hilfssysteme – Einhandtastaturen etc. – und zu wenige barrierefreie Lernprogramme. Würde man Inklusion ernst nehmen, müsste jede Lernsoftware so geschrieben werden, dass sie auch in leichter Sprache, großer Schrift usw. bedient werden kann.“

Zu wenige Fortbildungen

Und: Selbst dort, wo es Material gibt, wird es kaum genutzt. „Es ist zu teuer oder zu unbekannt, oder das entsprechende Wissen fehlt, um es einsetzen zu können“, erklärt Prof. Clemens Hillenbrand. Im Rahmen der SOLVE-Studie wertet der Oldenburger Bildungswissenschaftler zusammen mit Prof. Moritz Börnert-Ringleb (Uni Hannover) und Prof. Gino Casale (Uni Wuppertal) Fragebögen von 750 Sonderpädagoginnen und -pädagogen zu den Erfahrungen in der Pandemie aus. Dabei stellte sich heraus: Einerseits fühlen sich viele an ihren Schulen gut unterstützt. „Offenbar hat der konstruktive Austausch in dieser Gruppe recht gut geklappt“, erläutert der Forscher. Das sei auch deswegen wichtig, weil das Erleben von Selbstwirksamkeit im Unterricht oft nicht mit digitaler Selbstsicherheit eingeht: „Auch für Lehrkräfte, die sonst gut zurechtkommen, ist das Digitale eine ganz eigene Herausforderung.“

Woran es allerdings hapert, seien Fortbildung sowie Netzwerke für einen Austausch über gute Modelle, erklärt Hillenbrand. Denn die Befragung, die sich speziell an Lehrkräfte im Bereich Lern- und Verhaltensprobleme richtete, machte auch deutlich, in welch schwieriger Lage die Kinder und Jugendlichen sind: „Viele sitzen offenbar ganz allein vor dem Rechner“, stellt Hillenbrand fest. Hier dürfte auch hineinspielen, dass gerade diese Schülerinnen und Schüler überdurchschnittlich oft in Elternhäusern groß werden, die ihnen nicht recht zur Seite stehen (können). Und so rückten, das stellt die SOLVE-Studie auch fest, nicht wenige Sonderpädagoginnen und -pädagogen zu Hausbesuchen aus.