Coronapandemie
Schulische Abseitsfalle
Das Hauptproblem des deutschen Schulsystems – die Bildungsungerechtigkeit – verstärkt sich in der Corona-Krise. Deshalb sind gerade Kinder und Jugendliche mit Lernproblemen besonders stark von den Schulschließungen betroffen.
Seit Jahren bekommt das deutsche Bildungssystem bei den PISA-Tests in Fragen der Chancengleichheit schlechte Noten. Mit (un-)schöner Regelmäßigkeit wird festgestellt, dass die frühe Festlegung auf bestimmte Bildungswege die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder beschneidet. Die Reaktion der deutschen Schulbürokratie? Ein Achselzucken. Unser schöner, deutscher Bildungsadel ist uns viel zu wichtig, als dass wir ihn für ein bisschen mehr soziale Gerechtigkeit gefährden würden. Lieber tun wir das, was wir ohnehin am besten können: Wir loben uns einfach ein bisschen lauter, um die Kritik zu übertönen.
An dieser Haltung droht auch die Idee der schulischen Inklusion zu scheitern, die die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am Bildungssystem zum Ziel hat. Inklusion heißt, die unterschiedlichen Lebensverhältnisse und Lernvoraussetzungen im Blick zu haben, die Hilfen und die Unterstützung zu bieten, die eine Teilhabe an den allgemeinen Bildungsangeboten möglich macht.
Überall im Lande arbeiten engagierte Lehrkräfte daran, dieses Ideal im Schulalltag umzusetzen. Sie müssen dabei immer gegen die bildungsministerielle Vorgabe des gleichschrittigen Unterrichts ankämpfen. Diese Art von Unterricht bewirkt jedoch exakt das, was Kritiker der Inklusion vorwerfen: Gleichmacherei. Oder genauer: Angleichung an ein imaginäres Mittelschichtniveau, das in Vergleichstests alljährlich abgeprüft wird.
So sind auch die Schulen, die mit der Krise besser zurechtkommen, nicht unbedingt digitale Vorreiter. Im Vorteil sind vielmehr vor allem jene Schulen, die konsequent Formen selbstgesteuerten Lernens in den Unterricht eingebaut haben.
An eben dieser Ausrichtung des Unterrichts krankt jetzt auch der Umgang mit der aktuellen Corona-Krise. Die Vorstellung mancher Bildungsbehörden, den normalen Schulunterricht quasi per Liveschaltung in die Kinderzimmer zu übertragen, hat sich nicht nur aufgrund des mangelhaften Netzausbaus als realitätsfern erwiesen.
Ein solches Online-Wonderland hat auch mit der sozialen Realität herzlich wenig zu tun. Die entsprechenden Vorschläge gehen davon aus, dass alle Schülerinnen und Schüler über ein eigenes Endgerät, WLAN und einen entsprechenden Arbeitsplatz verfügen, von dem aus sie sich konzentriert am Unterricht beteiligen können. Dies aber ist selbst in vielen Mittelschichtfamilien nicht der Fall. Ganz zu schweigen von der Realität hellhöriger Zwei-Zimmer-Wohnungen, in denen mehrköpfige Familien leben.
Die Digitalisierung ist auch hier nicht das Allheilmittel, als das sie in der Corona-Krise allenthalben verkauft wird. So sind auch die Schulen, die mit der Krise besser zurechtkommen, nicht unbedingt digitale Vorreiter. Im Vorteil sind vielmehr vor allem jene Schulen, die konsequent Formen selbstgesteuerten Lernens in den Unterricht eingebaut haben. Mit der Wochenplan- und der Portfolioarbeit oder auch dem Projektunterricht gibt es dafür seit Jahren erprobte und erfolgreiche Konzepte.
Deshalb sind gerade Kinder und Jugendliche mit Lernproblemen besonders stark von den Schulschließungen betroffen.
Schließlich funktioniert auch in der Wunderwelt der Digitalisierung das Lernen nicht vollautomatisch. Die schönsten Online-Übungen nutzen nichts, wenn nicht außer dem Computer auch das Gehirn eingeschaltet wird. Für die Auswahl und Verarbeitung von Lernstoffen gilt dies vielleicht sogar noch mehr als in der analogen Welt, weil die Zerstreuung im Internet immer nur „one click away“ ist. Kurz: Das Lernen in der digitalen Welt kann ebenso kreativ, aber auch ebenso auf Drill und bloße Nachahmung angelegt sein wie in der analogen Welt.
Hinzu kommt: Die Studien der OECD zum digitalen Lernen zeigen regelmäßig, dass Lernende, die die analogen Grundkenntnisse wie Lesen, Schreiben und Rechnen nur unzureichend beherrschen, eher wenig von dem Einsatz digitaler Medien profitieren. Sie sind meistens intensiver auf die Anleitung und das Feedback der Lehrkräfte angewiesen. Deshalb sind gerade Kinder und Jugendliche mit Lernproblemen besonders stark von den Schulschließungen betroffen. Hier müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um Kontakt zu halten und mit den Kindern und ihren Eltern im Dialog zu bleiben. Das ist eine große Herausforderung, weil gerade die digitalen Möglichkeiten nicht immer vorhanden sind und sich ein direkter Kontakt aus Infektionsschutzgründen nicht empfiehlt.
Strukturelle Benachteiligung
Wenn jetzt also darüber nachgedacht und entschieden wird, wie die Schulen geöffnet werden, wäre es das Gebot der Stunde, gerade diese Kinder und Jugendlichen schrittweise in die Einrichtungen zu lassen und in Kleinstgruppen in ihrem Lernen zu unterstützen. Was aber sind die Vorschläge der Politik? Oberste Priorität hat die Vorbereitung und Durchführung von Prüfungen. Und am wichtigsten ist der Bildungsbürokratie natürlich das Abitur. Dass auch hier die Möglichkeiten der Prüfungsvorbereitung in den Familien höchst unterschiedlich waren, spielt keine Rolle. So schafft man es, auch hier die sozialen Ungleichheiten zu verstärken und das auch noch als „Vergleichbarkeit“ zu verkaufen.
In der Grundschule wurden zunächst die 4. Klassen in die Schule geholt. Begründung: Der Übergang in das gegliederte Schulsystem steht an. Schule ist in den Köpfen der Entscheidungsträger eben immer noch in erster Linie eine Anstalt, in der Stoff produziert und abgeprüft wird. Eine Anstalt, die Berechtigungen für bestimmte Lebenswege vergibt. Und dies in den meisten Bundesländern schon im Alter von zehn Jahren.
Die vermeintliche Eliteförderung auf Kosten der ärmeren Bevölkerungsschichten ist fest in den Köpfen verankert.
Schule wird immer noch nicht als ein Lebens- und Lernort gesehen, der jedem Lernenden die bestmögliche Bildung ermöglichen soll. Genau dies ist auch der Grund, warum strukturelle Fragen wie die nach Überwindung eines ungerechten Schulsystems oder die nach Abschaffung der Leistungsbeurteilung auf der Grundlage von Ziffernnoten tabuisiert werden. Die vermeintliche Eliteförderung auf Kosten der ärmeren Bevölkerungsschichten ist fest in den Köpfen verankert. Für die Abmilderung sozialer Benachteiligung gibt es allenfalls kosmetische Korrekturen.
Leider wird auch die Tatsache, dass eine solche Pandemie und ihre Folgen seelische Spuren hinterlassen, die die Konzentration auf Prüfungen und das Lernen erschweren, nicht gesehen. Die Frage entsteht: Welches Menschenbild und welcher Bildungsbegriff stecken hinter den Entscheidungen? Das lernende Subjekt mit seinen Ängsten, seinen Lebensumständen, seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen wird einfach ausgeblendet, als sei es das alleinige Ziel von Schule, Zensuren und Zeugnisse zu produzieren.
Hauptsorge ist jedenfalls nicht, die soziale Kluft in der Gesellschaft zu verkleinern, sondern das Bildungs-Business as usual um jeden Preis zu retten. Dabei könnte die Krise ein Anlass sein, über die Schule der Zukunft nachzudenken und entsprechende Ansätze zu stärken. Ein inklusives Schulsystem, das jeden einzelnen jungen Menschen in seinen Möglichkeiten sieht und die Unterstützung bietet, die notwendig ist, um diese auch zu realisieren, würde zu anderen Prioritäten führen.
Schule als Lebensort sehen
Schule ist eben nicht mehr nur ein Ort traditioneller Stoffvermittlung, sondern ein Lebens- und Lernort. Sie wird auch längst nicht mehr nur allein von Lehrkräften gestaltet. Um mehr Chancengleichheit umzusetzen, brauchen wir eine bessere Vernetzung von Jugendhilfe, schulischer Sozialarbeit und Pädagogik. Entsprechende Konzepte für die Arbeit in multiprofessionellen Teams liegen seit Jahren vor, sie sind in der Praxis erfolgreich erprobt worden. Diese Ansätze sollten gestärkt und gefördert werden.
Auch die materielle Unterstützung der Familien gehört dazu. Kinder, die nicht regelmäßig zu essen haben, können auch nicht lernen. Es ist also wichtig, dass Sozialämter, Jugendhilfe und Schule Hand in Hand arbeiten. Für den Weg der schrittweisen Öffnung der Schulen ist ein gemeinsames Krisenmanagement notwendig, sollen diese Kinder und Jugendlichen nicht völlig abgehängt werden. Hierzu sollte es einen runden Tisch geben, mit den Schulen und den Interessensvertretungen der Lehrenden sollen gemeinsam Konzepte ausgearbeitet werden.
Nichts davon ist jedoch zu sehen! Mehr denn je muss der Gedanke inklusiver Bildung und sozialer Gerechtigkeit in den Mittelpunkt gerückt werden. Es ist auch Aufgabe der GEW, den Finger in die Wunde zu legen und den Gedanken, dass es auf einem Schiff in Pandemie-Seenot nichts Wichtigeres gibt als Zensuren und Prüfungen, als das zu entlarven, was er ist: völlig absurd!