Zum Inhalt springen

Islamismus

„Schulen müssen politischer werden“

Sind Schulen und Lehrkräfte in Deutschland ausreichend auf die Auseinandersetzung mit dem Islamismus vorbereitet? Unter anderem darüber sprach E&W mit der Integrationsbeauftragten des Berliner Bezirks Neukölln, Güner Balcı.

Güner Balcı wurde 1975 in Berlin-Neukölln geboren. Sie arbeitete viele Jahre lang als Journalistin, TV-Autorin und Schriftstellerin. Seit August 2020 ist sie Integrationsbeauftragte des Berliner Bezirks Neukölln. (Foto: Kay Herschelmann)
  • E&W: In einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ meinten Sie kürzlich, dass der Terror von Neonazis und der Terror von Islamisten sich gegenseitig hochschaukeln würden. Beide Gruppen attackierten die liberale Demokratie und befruchteten sich gegenseitig. Politische Initiativen gegen Rechtsextremismus gibt es viele, fehlt es hierzulande an Engagement gegen den islamistischen Terror?

Güner Balcı: In dem Moment, in dem es zu Anschlägen kommt, ist es schon zu spät – egal aus welcher Richtung der Terror kommt. Man muss viel früher ansetzen. Bezüglich des Islamismus gibt es diesbezüglich Nachholbedarf.

  • E&W: Was müsste sich ändern?

Balcı: Die zivilgesellschaftlichen Institutionen, also auch die Schulen, müssen sich mehr mit den Lebenswelten der muslimischen Jugendlichen auseinandersetzen. Schulen und andere Einrichtungen sind zu weit weg von den Bedürfnissen dieser Schülerinnen und Schüler. Die Mehrheitsgesellschaft kann deren Suche nach Identität und Sinn nicht ausreichend erfüllen Es fehlen entsprechende Angebote zu religiösen Fragen rund um den Islam. Die Politik hat sich viel zu lange auf den Standpunkt gestellt, dass Religion Privatsache sei. Das funktioniert bei Menschen gut, die in einer säkularisierten Gesellschaft sozialisiert wurden, nicht aber bei Menschen, die aus Gesellschaften stammen, in denen die Religion im Privaten bis in die öffentlichen Institutionen hinein eine tragende Rolle spielt.

  • E&W: Was hätte getan werden müssen, und was muss getan werden?

Balcı: Natürlich kann und darf der deutsche Staat keine Moschee gründen, er hätte aber früher dafür sorgen müssen, dass islamische Theologie ein Bestandteil an den Universitäten wird. Entsprechende Schritte wurden erst vor wenigen Jahren eingeleitet, obwohl seit über 60 Jahren Muslime nach Deutschland einwandern.

  • E&W: Der Islam in Deutschland scheint in den vergangenen Jahren konservativer geworden zu sein. Sie haben kürzlich erklärt, dass das kein Problem sei und dafür viel Widerspruch erhalten.

Balcı: Damit habe ich gerechnet. Die Menschen, die vermeintlich in dieser Gesellschaft nicht angekommen sind, pflegen einen konservativen Islam, der aber genauso wie das konservative Christentum oder das orthodoxe Judentum seinen Platz in Deutschland hat. Solange es nur um das Ausleben religiöser Bedürfnisse geht, müssen diese Menschen die Freiheiten genießen, die etwa Christen und Juden auch haben.

  • E&W: Werden die Unterschiede zwischen konservativem Islam und dem Dschihadismus in Deutschland zu wenig wahrgenommen?

Balcı: Ja, es wird zu wenig erkannt, dass zum Beispiel Menschen, die ihre Töchter mit Kopftuch in die Schule schicken, sich trotzdem nicht den Islamischen Staat als Staatsform wünschen. Hier muss auch in der politischen Debatte viel stärker differenziert werden. Einwanderung bedeutet immer, dass es Reibungen zwischen Aufnahmegesellschaft und Einwanderern gibt. Allerdings gibt es ein Fundament, das für alle verbindlich sein muss, nämlich die im Grundgesetz festgehaltenen Grundrechte.

  • E&W: Das seit 2005 in Berlin geltende Neutralitätsgesetz verbietet auch Lehrkräften, religiös konnotierte Kleidung am Arbeitsplatz zu tragen. Sie haben sich mehrfach öffentlich für das Gesetz stark gemacht. In einer Erklärung, die Sie mitunterzeichnet haben, heißt es, dass auch dann, wenn die einzelne Pädagogin nicht religiös beeinflussen wolle, bereits ihr Erscheinungsbild einen subtilen Druck auf Schülerinnen ausübe. Lässt sich Emanzipation staatlich verordnen?

Balcı: Nein. Es geht beim Berliner Neutralitätsgesetz um mehr als um ein Kleidungsstück. Die Erfahrungen aus der Schulpraxis sind eindeutig: Dort, wo es einen hohen Anteil muslimischer Schülerinnen und Schüler gibt, existiert häufig ein religiös bedingtes Mobbingklima. Hier laufen gruppendynamische Prozesse ab, die zu einem Bekenntniszwang in der Peer Group führen: Entweder du gehörst zu uns oder du gehörst nicht zu uns! Festgemacht wird das beispielsweise an der Frage, ob eine Mitschülerin ein Kopftuch trägt oder nicht.

  • E&W: Widerstand gegen das Gesetz kommt unter anderen von akademisch gebildeten muslimischen Frauen. Haben diese recht, wenn sie kritisieren, dass sie durch das Neutralitätsgesetz wegen ihrer Kleidung beruflich diskriminiert werden?

Balcı: Eine Lehrerin hat eine Vorbildfunktion; wenn sie ein Kopftuch trägt, setzt sie ein Zeichen in zwei Richtungen – sie bestätigt die Meinungsführer in der Peer Group und übt einen Anpassungsdruck auf Schülerinnen aus, die kein Kopftuch tragen. Die jungen Musliminnen, die das Kopftuch selbstbewusst tragen und von sich sagen, emanzipiert zu sein, blenden diese Mobbingstruktur meines Erachtens aus; sie argumentieren aus einer akademischen Warte, die mit den Lebenswelten vieler muslimischer Schülerinnen nichts zu tun hat.

  • E&W: Was können, was müssen die Schulen in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus tun?

Balcı: Sie müssen politischer werden. Sie müssen zum Beispiel die Einrichtung von Meldestellen für religiöses Mobbing fordern. Bundesweit gibt es bislang keine einzige solche Meldestelle. Es gibt aber auch andere Probleme. Ich bekomme als Integrationsbeauftragte immer wieder Mails und Anrufe von Lehrerinnen und Lehrern, die verzweifelt sind. Da geht es um Pärchen, die sich nur heimlich treffen können und die von Ehrenmord bedroht sind, oder um Schülerinnen, die nach den Sommerferien nicht mehr zum Unterricht erschienen sind, weil sie im Heimatland ihrer Vorfahren verheiratet wurden.

  • E&W: Ducken sich Lehrkräfte vor solchen Problemen weg, weil sie selbst hilflos sind?

Balcı: Ja. Deshalb müssen Lehrkräfte schon in ihrer Ausbildung auf solche Situationen vorbereitet werden. Ihnen muss klar sein, dass sie an Schulen mit einem hohen Anteil an Kindern mit Zuwanderungsgeschichte aus traditionellen Familien mit solchen Problemen konfrontiert werden.

  • E&W: Sie haben zwölf Jahre lang bis Anfang der 2000er-Jahre in einem Mädchentreff in Neukölln gearbeitet. Was hat sich seit dieser Zeit in Neukölln geändert?

Balcı: Der Islamismus, der die Gesellschaft politisch verändern will, wird heute noch mehr verachtet als früher. Was sich herausgebildet hat, ist ein konservativer Alltagsislam, der für den Einzelnen oder die Einzelne aus der muslimischen Community ein Problem darstellen kann, nicht aber für die Mehrheitsgesellschaft. Gleichzeitig sind Muslime ein Bevölkerungsteil, der öffentlich kaum positiv wahrgenommen wird. In Neukölln gibt es mittlerweile Geschäfte, die bereits in der zweiten oder dritten Generation geführt werden und eine neue Tradition von Familienunternehmen begründen. Deren Inhaber und die meisten anderen Muslime im Bezirk sind froh, in einem Land zu leben, in dem grundlegende Freiheiten gewährt werden. Sie wünschen sich für ihre Kinder den sozialen Aufstieg. Das macht sich auch in steigenden Abiturientenquoten bemerkbar.

  • E&W: Hat Deutschland gegenüber Frankreich den Vorteil, dass die Religion hierzulande nicht vollständig aus der Institution Schule verbannt wurde?

Balcı: Ja. Die Beschäftigung mit religiösen Fragen kann Kindern – unabhängig davon, ob sie aus einem religiösen Haushalt kommen oder nicht – sehr viel mitgeben auf ihrer Suche nach Identität und Sinn. Nur wenn es die Institution Schule schafft, auch dieses Bedürfnis abzubilden, kann man erreichen, dass Kinder und Jugendliche selbstbestimmt ihre Religion entdecken und Dogmen hinterfragen.

  • E&W: Also das praktizieren, was man gemeinhin Emanzipation nennt?

Balcı: Ja, genau.