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Kolumbien

Schulen als Katalysatoren der Versöhnung

„Schulen des Wortes“ heißt das Projekt, hinter dem die kolumbianische Wahrheitskommission als Schirmherrin steht. Es versucht, eine Friedenskultur an den Schulen einzuführen und den Kreislauf von Korruption und Gewalt zu durchbrechen - mit Erfolg.

Sandra Bendek (links) und Johana Reales (2. v. li.) mit zwei angehenden Lehrerinnen. (Foto: Knut Henkel)

Im Zentrum von Santa Marta, gleich hinter den wuseligen Markthallen der kolumbianischen Karibikstadt, liegt die Schule, an der der pädagogische Nachwuchs der Region ausgebildet wird. „Escuela Normal Superior María Auxiliadora“ heißt die von Nonnen geleitete Einrichtung mit vollem Namen. Jeden Morgen um 7 Uhr finden sich rund 1.700 Schülerinnen auf den Höfen der weitläufigen Schule ein und werden von den Lehrkräften auf den Tag eingestimmt.

„Das Miteinander wird bei uns gefördert und gefordert“, erklärt Johana Reales. Die quirlige Afrokolumbianerin ist eine der Triebfedern hinter „Escuelas de Palabra“. „Schulen des Wortes“ heißt das Bildungsprogramm übersetzt, das zum Ziel hat, die jüngere Geschichte mit all ihren Facetten in den Unterricht einfließen zu lassen. Das ist alles andere als einfach, denn in etlichen Regionen des Landes schwelt der Konflikt auf kleiner Flamme weiter, in anderen haben die jahrelangen Kämpfe die gesamte Region geprägt und Umgangs- und Verhaltensweisen massiv verändert. So standen die Region um Santa Marta und große Teile der kolumbianischen Karibikküste jahrelang unter paramilitärischer Kontrolle.

„Die paramilitärischen Comandantes nutzten ihre Macht skrupellos aus – unter anderem auch, um den politischen Gegner zu demütigen.“ (Johana Reales)

„Hier in der Stadt mussten alle Händler auf dem Markt, der gleich vor unserer Schule liegt, die Vacuna, die Steuer der Paramilitärs, zahlen. Viel schlimmer ist jedoch, dass Mädchen und junge Frauen vor den schwerbewaffneten Freischärlern nicht sicher waren“, erklärt die Direktorin, Hermana Mónica Tausa Ramírez, mit leiser Stimme. Mädchen, „Niñas“, wurden entführt und vergewaltigt. „Die paramilitärischen Comandantes nutzten ihre Macht skrupellos aus – unter anderem auch, um den politischen Gegner zu demütigen“, ergänzt Reales.

Das soll nie wieder passieren. Dafür engagiert sich die Frau in der strengen Ordenstracht, die die renommierte Schule leitet. Diese nimmt gleich an mehreren Bildungsinitiativen teil. Davon zeugt das Schild am Eingang: Redpapaz, übersetzt Netzwerk für den Frieden, steht darauf. Die Organisation, die Eltern gegründet haben, engagiert sich seit 2003 für den Frieden an den Schulen und Bildungseinrichtungen des Landes.

In Kleingruppen beschäftigen sich die Mädchen und jungen Frauen auch mit der Geschichte des Paramilitarismus in ihrer Region. (Foto: Knut Henkel)

Neuausrichtung der Lehrpläne – eine Zukunftsoption

Das ist in Kolumbien, wo mehrere Universitäten an der Karibikküste, darunter die von Santa Marta, von den Paramilitärs übernommen wurden, alles andere als ungefährlich. Zahlreiche kritische Dozenten und Professoren genauso wie aktive Gewerkschafter wurden ermordet. Über Jahre herrschte ein bleiernes Klima der Angst. „Das gilt auch für viele Schulen“, so Reales. Sie ist die Verbindungslehrerin zu „Escuelas de Palabra“, koordiniert die Treffen mit den Bildungsexperten, die das Kollegium beraten, neue didaktische Ansätze erläutern und den Schulen fünf potenzielle Vorgehensweisen vorstellen, um die jüngere Geschichte im Unterricht zu verankern und das Miteinander an der Schule zu fördern.

In der „Escuela Normal Superior María Auxiliadora“ ist diese Entwicklung kaum zu übersehen: Auf dem Schulhof, aber auch in den langen Gängen sitzen Kleingruppen von vier bis sechs Mädchen oder jungen Frauen, die an einem Projekt arbeiten. Recherchen zur Situation an Schulen, an denen Kleingruppen angehender Lehrerinnen ihr vierwöchiges Praktikum absolvieren sollen, sind genauso Usus wie solche zur Geschichte des Paramilitarismus in der Region. Anspruchsvolle Aufgaben, denn die kolonial geprägte Hafenstadt zählt zu den Orten Kolumbiens, an denen besonders viele Binnenflüchtlinge strandeten und zum Neuanfang gezwungen waren.

„Wir sind alle Teil des Konflikts, der uns prägt. Es gibt direkte und indirekte Opfer.“

„Das spiegelt sich auch unter den Schülerinnen wider, die aus dem ganzen Stadtgebiet und allen sozialen Schichten kommen“, so Reales beim Rundgang. Darunter auch Opfer der paramilitärischen Verbände genauso wie Kinder von Eltern, die zu den Anhängern der selbsternannten Selbstverteidigungseinheiten Kolumbiens (AUC) oder zu deren Gegnern, der mittlerweile demobilisierten FARC-Guerilla, gehören. Ein Spagat, den die Schule mit der Maxime der Friedenskultur leisten muss. Der kritische, humanistische Ansatz gepaart mit der Verpflichtung des Respekts für alle anderen ist im und außerhalb des Unterrichts verankert.

„Wir sind alle Teil des Konflikts, der uns prägt. Es gibt direkte und indirekte Opfer“, schildert Reales den Ansatz und grüßt ihre Kollegin Sandra Bendek, die sich gerade mit zwei 17-jährigen Schülerinnen unterhält – Victoria Rieta und Luisa Mantilla Guerrero, die bald ihr erstes Praktikum in einer Landschule absolvieren und sich jetzt darauf vorbereiten. „Als Lehrerinnen sind wir Vorbilder, an uns orientieren sich Kinder und Jugendliche. Wir müssen sie mitnehmen, sie auch auf sozio-emotionaler Ebene unterstützen. Das geht aber nur, wenn wir unseren inneren Frieden gefunden haben“, erklärt Rieta.

Für ihre Mitschülerin Guerrero ist klar, dass Teamwork und Verantwortung die Schlüssel sind, um den Wandel in Kolumbien zu initiieren. „Wir wollen etwas ändern und damit fangen wir hier in Santa Marta an – gemeinsam. Korruption und das Fehlen von Integrität und Werten prägen diese Gesellschaft. Doch hier haben wir gelernt, dass es auch anders geht.“

Das Curriculum der Escuala Normal Superior María Auxilidora hat unter anderem zum Ziel, die Rechte der Frauen zu stärken. (Foto: Knut Henkel)

Autonomie von Lehrkräften und Schulen nutzen

Aussagen, die den beiden Lehrerinnen gefallen dürften, denn beide setzen all ihre Hoffnungen auf die Jugend. Die soll in Kolumbien die Weichen stellen. Dabei können die Schulen des Landes eine zentrale Rolle spielen. Die Überarbeitung der Lehrpläne, die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte im Unterricht und die Ausbildung der Lehrkräfte als Multiplikatoren einer Friedenskultur sind dabei zentrale Elemente. Die weitreichende Autonomie der einzelnen Schulen und der Kollegien ist ein Trumpf, denn das Bildungsministerium gibt nur die Inhalte der zentralen Fächer vor, nicht aber jene in Geschichte oder Sozialkunde.

„Wir Älteren müssen der nachwachsenden Generation das Träumen ermöglichen.“ (Sandra Bendek)

„Dadurch haben Lehrkräfte und Schulen Autonomie, und die haben wir hier genutzt, um eine Kultur der Konfrontation durch eine Kultur des Dialogs auf allen Ebenen der Schule zu ersetzen“, sagt Reales. „Wir Älteren müssen der nachwachsenden Generation das Träumen ermöglichen. Dazu gehört der Glaube, dass es eine Chance gibt, den Kreislauf von Gewalt und Korruption zu durchbrechen“, meint Lehrerin Bendek. Dafür engagiert sie sich in der Schule, aber auch außerhalb. Das trägt in Kolumbien durchaus Früchte – und nicht nur innerhalb des Netzwerks der Schulen, die an dem Programm teilnehmen, das eine Kooperation von sieben Nichtregierungsorganisationen unter Schirmherrschaft der Wahrheitskommission in mehreren Landes-teilen implementiert hat.

Die Parlamentswahlen vom 13. März sind dafür ein Indiz. Sie haben die Verhältnisse in den beiden Kammern der Volksvertretung erstmals seit Jahren so verändert, dass progressive Parteien die seit Dekaden -regierende Rechte gemeinsam überstimmen können. Ein Hoffnungsschimmer. Mit der Präsidentschafts-Stichwahl am 19. Juni wurde dann der politische Wandel im Land beschleunigt: Kolumbien erhält mit Gustavo Petro den ersten linken Präsidenten seit mehr als 50 Jahren. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die jüngere Generation, die mehrheitlich für Petro stimmte. Daran haben Schulprojekte wie „Escuelas de Palabra“ ihren Anteil.