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50 Jahre Gesamtschule

Schule der Zukunft

Im September 2019 hat die Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule (GGG) ihren 50. Geburtstag gefeiert. Die Gesamtschule hat aber nicht nur eine Vergangenheit, sie hat auch eine Zukunft.

Foto: Thomas Mayer

Im Jubiläumsjahr 2019 der GGG erschien ein neues Buch von Andreas Schleicher, dem Koordinator der PISA-Studien bei der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD). Es trägt den pointierten Titel: Weltklasse und heißt im seriöseren Untertitel „Schule für das 21. Jahrhundert gestalten“.

Besonders bemerkenswert sind Schleichers Ausführungen zur Schulstruktur. Er schreibt: „Im Hinblick auf die Einteilung der Schülerinnen und Schüler in verschiedene Bildungsgänge und Leistungsgruppen gibt es zwischen den Ländern erhebliche Unterschiede. Die PISA-Ergebnisse zeigen, dass keines der Länder, die eine starke Aufteilung und Gruppierung der Schüler entsprechend ihren Fähigkeiten vornehmen – sei es durch die Verteilung auf unterschiedliche Schultypen oder -zweige oder durch Klassenwiederholungen –, zu den leistungsstärksten Bildungssystemen bzw. den Systemen mit dem höchsten Anteil an besonders leistungsstarken Schülerinnen und Schülern zählt. Am besten schneiden die Bildungssysteme ab, die allen Schülerinnen und Schülern gleiche Lernmöglichkeiten bieten (...) Heute ist es nicht nur sozial ungerecht, sondern auch wirtschaftlich höchst ineffizient, Schulsysteme auf der Basis von Exklusion zu organisieren. Bildungsgerechtigkeit und Inklusion sind in einem modernen Bildungssystem und einer modernen Gesellschaft unerlässlich.“

Wie man dem Schleicher-Buch entnehmen kann, ist die Gesamtschule heute weltweit etabliert, außer in Deutschland und Österreich. In Deutschland ist die Situation der Gesamtschule widersprüchlich. Zum einen erhält sie immer mehr Anmeldungen, meist sogar mehr als sie aufnehmen kann. Auch haben Gesamtschulen mehrfach den Deutschen Schulpreis gewonnen, zweimal sogar den Hauptpreis, häufiger als Gymnasien. Andererseits gerät sie vielerorts, vor allem in mittelgroßen Städten, zur Restschule, wenn die Hauptschulen verschwinden, die Eltern die Realschule vorziehen und die Gesamtschule zur Ersatzschule für die Hauptschule zu werden droht. Das ist eine betrübliche Situation, zumal die Gesamtschulen dann auch noch die Hauptlast bei der Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher tragen.

Es könnte aber auch sein, dass sich die Gesamtschule gerade in einer sogenannten Kairós-Situation befindet, die Fortschritte ermöglicht. Den Begriff „Kairós“ hat um das Jahr 400 v. Chr. herum der griechische Historiker Thukydides geprägt. Kairós bezeichnet den „rechten Zeitpunkt“. Für Kairós gilt die populäre Wendung: Erkenne den rechten Zeitpunkt. Das Substantiv Kairós bedeutet auch „günstiger Zeitpunkt“ (für eine Entscheidung) oder „entscheidender Augenblick“. Diese Situation ist von einer „Großen Transformation“ (Karl Polanyi) geprägt. Zu nennen sind hier die Entwicklung der Wissensgesellschaft, vor allem aber die Digitalisierung von Arbeit und Alltag.

Das Lernen wird sich ändern

Die „Große Transformation“ betrifft auch die Schule. Zum Beispiel ist die sogenannte Strukturreform zu verstehen als Transformation eines mehrgliedrigen Schulsystems zu einem zweigliedrigen System. Dieses behält allerdings die Selektion bei, weshalb die Forderung nach einem Schulsystem, „das allen Schülerinnen und Schülern gleiche Lernmöglichkeiten bietet“ (Schleicher), egal, ob man die Schulen Gesamt-, Gemeinschafts- oder Einheitsschule nennt, unerfüllt bleibt.

Zudem ist eine durchaus „Große Transformation“ des Unterrichtens und des Lernens im Gange. Davon zeugt das Reden von Learning Analytics/maschinellem Lernen, von „Flipped Classrooms“* oder von der Abschaffung des Klassenraums, von selbstgesteuertem, aber auch von durch Algorithmen gesteuertem Lernen, von Individualisierung und Personalisierung. Das alles sind Chancen und zugleich Gefährdungen, auf jeden Fall sind es aber disruptive Prozesse, die das schulische Lernen grundlegend verändern.

Wenn sich die allgegenwärtige Forderung „Pädagogik statt Technik“ und personalisiertes Lernen im Sinne ganzheitlicher Persönlichkeitsbildung tatsächlich durchsetzen ließe, könnte die „Große Transformation“ eine Gelegenheit für die fällige Gesamtschulreform bieten: Personalisierung im Sinne digital gestützten Lernens und Lehrens ermöglicht nicht nur selbstgesteuertes Lernen, sondern kann Schulformen und -arten vielleicht sogar überflüssig machen. Dann hat sich die „Schulstrukturdebatte“, die eine Schulformdebatte ist, von selbst erledigt.

Was die jetzigen Schultypen und -zweige betrifft, geht es im Übrigen gar nicht um die Abschaffung des Gymnasiums, sondern um die „Aufhebung“ des Gymnasiums im Hegelschen Sinne, um das, was das Aufhebenswerte des Gymnasiums ausmacht, zum Beispiel Bildungsorientierung und Wissenschaftspropädeutik, tatsächlich aufzuheben, das heißt für alle Schülerinnen und Schüler erwerbbar zu machen. Aber vergessen wir nicht: Nichts wird einem geschenkt. Man muss es sich zusammen mit anderen erkämpfen.