Feministische Zeitpolitik
Schulbetrieb auf Teilzeitbasis
Die fast 500 Schülerinnen und Schüler der Kurt-Masur-Grundschule in Leipzig werden von einem multiprofessionellen Team betreut. Doch viele Beschäftigte arbeiten in Teilzeit oder kleinen Arbeitsgelegenheiten – die meisten von ihnen sind Frauen.
An einem grauen Vormittag Ende Januar sitzt Soumia Guebailia in der Bibliothek der Kurt-Masur-Grundschule und erzählt von ihren Träumen. Sie möchte Schulassistentin werden, mit einer Vollzeitstelle, damit das Geld für die Familie reicht. Das tut es bisher nicht. Die Frau aus Algerien muss warten, bis irgendwann eine volle Stelle frei wird. Die Qualifikation habe sie, sagt Guebailia. Seit Jahren unterstützt sie Grundschülerinnen und -schüler mit Migrationshintergrund in DaZ-Klassen (Deutsch als Zweitsprache). Anfangs als Ein-Euro-Jobberin, inzwischen mit Arbeitsvertrag. „Ich helfe Kindern beim Rechnen, Schreiben, Lesen“, erzählt sie. „Und beim Einhalten der Schulregeln.“
In Algerien hat Guebailia Chemie studiert, vier Jahre in einem Labor und acht Jahre in einer Apotheke gearbeitet. 2007 heiratete sie, im Jahr darauf folgte sie ihrem Mann nach Deutschland. Er betreibt in Leipzig einen An- und Verkaufsladen, aber seit Corona läuft das Geschäft schlecht. „Es ist schlimm geworden“, sagt Guebailia. Deshalb gehe ihr Mann jetzt morgens zwischen 5 und 7 Uhr putzen. Mit Stolz in den Augen erzählt sie von ihren eigenen Kindern, die Tochter ist zehn Jahre alt und geht aufs Gymnasium. Der Sohn, 9, wird ihr vielleicht bald folgen. „Je älter sie werden, umso mehr Geld brauchen sie.“ Der Sohn wünsche sich ständig neue Fußballtrikots. Aber Guebailia bekommt nur gut 900 Euro im Monat ausgezahlt. Dafür arbeitet sie vier Stunden am Tag. Mehr lässt der Vertrag mit dem Kommunalen Eigenbetrieb Leipzig nicht zu. „Das ist nicht viel“, sagt sie. „Ich möchte mehr.“
Viele arbeiten befristet oder stocken Hartz-IV auf
Die studierte Chemikerin im DaZ-Unterricht ist eine von sehr vielen Frauen und Männern, die in Deutschlands Schulen dafür sorgen, dass der Alltag so gut läuft wie an der Kurt-Masur-Schule. Der Neubau in der Leipziger Südvorstadt ist ein lebendiges, offenes Haus und ein Spiegel des alternativen, bunten Stadtteils. Fast 500 Schülerinnen und Schüler aus 18 Nationen bevölkern die farbenfrohen Gänge, unter ihnen 21 Inklusionskinder.
Jeden Morgen um 6 Uhr öffnet der Frühhort. Erst elf Stunden später, um 17 Uhr, endet der Schultag mit seinen Ganztagsangeboten und dem Späthort. Zum Team gehören neben den 38 Lehrkräften auch einige Erzieherinnen, eine Sozialarbeiterin, Inklusionshelfer, die Frauen der Schulküche, eine Aushilfs-Bibliothekarin, ein Schulwegbegleiter sowie die Sachbearbeiterinnen und neuerdings eine Schulverwaltungsassistentin im Sekretariat.
Die Frau, die all das zusammenhält, ist Schulleiterin Heike Hentschel, eine Pädagogin mit großer Erfahrung und großem Herzen. Sie hat mit ihrem Team gegen kommunale Widerstände dafür gesorgt, dass Kurt Masur, der 2015 verstorbene weltberühmte Dirigent des Gewandhausorchesters und Begleiter der Montagsdemos 1989, Namenspatron ihrer Schule wird. „Weil er für den demokratischen Weg, für das Gespräch und die Toleranz stand“, sagt Hentschel. „Auch wir sind immer offen für neue Menschen. Das gehört zu unserer Auffassung vom gemeinsamen Lernen.“
Doch viele Mitarbeiterinnen haben keine Vollzeitstellen, sie arbeiten in Teilzeit, in befristeten Jobs oder stocken ihren Hartz-IV-Satz auf. Ein großes, vielseitiges Team unter einem gemeinsamen Dach – aber in teils prekären Beschäftigungsverhältnissen.
Lange Zeit der Sorgearbeit
Eine der Betroffenen ist Corinne Bengen. Die 64-Jährige sitzt am Tresen der kleinen Schulbibliothek und blickt auf eine Erwerbsbiografie zurück, die ihrer Ausbildung nie gerecht wurde. Die Frau aus Antwerpen hat in Belgien auf Lehramt die Fächer Deutsch und Niederländisch studiert, sie kam 1980 nach Deutschland. Doch ihr Berufsabschluss wurde hier nie anerkannt. Sie jobbte als Verkäuferin, ging putzen, bekam zwei Kinder, heiratete zweimal und wurde zweimal geschieden.
Es war eine lange Zeit der Sorgearbeit für die Familie. Dann ließ sie sich als Ein-Euro-Jobberin anheuern. „Das versprochene Sprungbrett in richtige Arbeit war das allerdings nicht“, sagt sie. 2013 zog Bengen zu ihren Söhnen nach Leipzig, Ende März 2019 bekam sie den Vertrag in der Schulbibliothek als sogenannte Paragraf-16i-Maßnahme: zur Teilhabe am Arbeitsmarkt.
„Nach 14 Jahren Hartz IV fühlt sich das an wie ein Leben in Saus und Braus.“ (Corinne Bengen)
Nach ein paar kurzen Schulungen ist sie seitdem 25 Stunden pro Woche für die Kinder da, organisiert Buchausleihen und bekommt dafür etwa 1.200 Euro netto im Monat. „Nach 14 Jahren Hartz IV fühlt sich das an wie ein Leben in Saus und Braus“, sagt sie. Doch der Vertrag mit der Kommune läuft aus, und Bengen überlegt, mit 64 Jahren lieber in Rente zu gehen. Vielleicht könnte sie noch eine Weile mit Kindern häkeln, wie sie es nebenher in der Bibliothek getan hat. Sie ist sich noch nicht sicher. „Die Familienarbeit habe ich sehr gerne und freiwillig gemacht“, sagt sie. „Aber ich fühle mich als Paradebeispiel für Frauen, die durch ihre Wahl für die Familie in der lebenslangen Armutsfalle sitzen.“
Nach wie vor arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit als Männer
Bengens Geschichte ist nicht untypisch für Deutschlands Bildungslandschaft: Nach wie vor arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit als Männer und leisten mehr Familien- und Sorgearbeit. Sandra Schmitt bestätigt das. Sie ist seit Ende 2020 Schulsozialarbeiterin an der Kurt-Masur-Schule. Noch. Die 46-Jährige hat eine 30-Stunden-Stelle, aber lediglich als Elternzeit-Vertretung. Es ist der Klassiker: Das Team für Schulsozialarbeit bei ihrem freien Träger besteht zum Großteil aus Frauen, und diese arbeiten in der Regel in Teilzeit. „Anders lässt sich der Job oft gar nicht realisieren – und es wäre kräftemäßig wahrscheinlich kaum anders zu schaffen“, sagt Schmitt.
Sie geht diesen Sommer einer ungewissen Zukunft entgegen. Wenn ihre Vertretungsstelle endet, möchte sie den Einschnitt als Chance nutzen und ihre Approbation als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin ablegen. „Dann werde ich zum ersten Mal ganz vom Einkommen meines Mannes abhängig sein. Das wird eine neue Erfahrung für mich“, erzählt sie. Wie es danach weitergeht? Ungewiss.
„Aber ich habe mich nach oben gekämpft.“ (Maja Wagner)
Wer frühmorgens an die Kurt-Masur-Schule kommt, sieht in der Mensa schon Licht brennen. Frühstück für zwei Dutzend Schülerinnen und Schüler und das Mittagessen für mehr als 450 Menschen müssen pünktlich fertig sein. Teamchefin Maja Wagner (Name geändert) steht dafür spätestens ab 7 Uhr in der Küche. Als Vorarbeiterin hat sie eine 35-Stunden-Woche und verdient 1.200 Euro netto. Das war nicht immer so. Als die gelernte Restaurant- und Hotelfachfrau nach der Elternzeit wieder arbeiten wollte, fing sie bei einem Dienstleister für 6,50 Euro die Stunde in einer Grundschulküche am anderen Ende der Stadt an.
Vier Stunden Arbeit plus eine Stunde Fahrzeit quer durch Leipzig – für 26 Euro am Tag. „Aber ich habe mich nach oben gekämpft“, sagt die 45-Jährige. Dass ihre zwölfjährige Tochter jeden Morgen allein aufsteht und mittags meist in die leere Wohnung kommt, ist für beide Alltag. „Zweimal in der Woche hole ich sie mittags ab – da freut sie sich“, erzählt die Alleinerziehende.
Zu ihrem Team gehören drei weitere Frauen, die alle nur vier, fünf oder sechs Stunden arbeiten. Eine neue Kollegin aus Syrien wird von ihr gerade angelernt. „Sie ist herrlich. Sie fragt uns ein Loch in den Bauch und schreibt sich alle neuen Wörter auf“, erzählt die Küchenchefin. „Nach der Probezeit würde sie gern mehr arbeiten – ich hoffe, das klappt.“