Pädagogik und Digitalisierung
Schöne neue Digitalwelt?
Die Digitalisierung bietet den Schulen neue Möglichkeiten. Vielfach kann sie das Lernen durch neue Herangehensweisen und Formate bereichern. Entscheidend ist jedoch: Die Pädagogik muss das Heft des Handelns in der Hand behalten.
Mit der Corona-Pandemie waren die Lehrkräfte von heute auf morgen damit konfrontiert, das Lernen auf Distanz zu organisieren. Dies machte eine beschleunigte Nutzung digitaler Tools und Medien notwendig. Die Möglichkeiten der Digitalisierung wurden dabei ganz unterschiedlich genutzt. Sie reichten vom Verschicken von Aufgabenpaketen per E-Mail bis hin zu umfassenden Konzepten, die auch Videokonferenzen mit den Lernenden einschlossen. Wir haben gesehen: Die Digitalisierung kann das Lernen erleichtern. Sie bietet große Chancen, Distanz- und Präsenzlernen zu verbinden.
Gerade die ungeheuren Möglichkeiten des digitalen Lernens können jedoch dazu verleiten, die damit zusammenhängenden Probleme zu übersehen. Die folgenden Punkte halte ich für besonders beachtenswert:
1. Digitalisierung und Normierung
In den meisten Fächern gibt es Basiselemente, die das Fundament für den freien Umgang mit den darauf aufbauenden Inhalten bilden. Dies ist bei Vokabeln, grammatischen Formen und historischen Daten nicht anders als bei mathematischen Formeln oder dem Einmaleins. Die Digitalisierung kann dabei helfen, das harte Brot des Auswendiglernens durch phantasievolle Elemente aufzulockern. Sie kann aber auch schlicht den analogen Pattern-Drill in die digitale Welt übertragen. Dies ist bestenfalls überflüssig, kann sich schlimmstenfalls aber auch negativ auf die Kreativität der Lernenden auswirken. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn das Multiple-Choice-Prinzip auf komplexere Aufgaben angewendet wird. So berücksichtigen die Programme oft nicht die Verschiedenartigkeit der Lösungswege, wie sie etwa bei mathematischen Textaufgaben denkbar sind.
2. Digitalisierung und Mündigkeit
Die unter dem Schlagwort „Learning Analytics“ zusammengefassten digitalen Lernprogramme werben damit, dass sie den Lernenden maßgeschneiderte Aufgaben für ihre Lernprobleme zusammenstellen. Gleichzeitig fördern sie jedoch eine passive Lernhaltung, die auch in anderen Bereichen Unterordnung und Konformität nahelegt. Dies erschwert die Herausbildung eines Denkens, das sich kritisch mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzt.
3. Digitalisierung und Taxierung
Die Digitalisierung kann die Selbstständigkeit der Lernenden auf vielfältige Weise fördern. Dies gilt für die Recherche bei der Portfolioarbeit ebenso wie für die Nutzung der digitalen Möglichkeiten, Lerninhalte zu verarbeiten und zu präsentieren. Das Ziel von „Learning Analytics“ ist jedoch gerade nicht die Förderung des selbstgesteuerten Lernens und der geistigen Autonomie der Lernenden. Stattdessen dienen diese Programme einer Perfektionierung des taxierenden Systems der Ziffernnoten und der Vergleichsarbeiten.
4. Digitalisierung und Ökonomisierung
Der Digitalpakt hat zu einer Intensivierung von Formen des Public Private Partnership geführt. Dies bedeutet zum einen, dass die Politik verstärkt privatwirtschaftliche Institute mit der Entwicklung schulischer Lernprogramme beauftragt. Zum anderen profilieren sich aber auch die großen Tech-Konzerne vermehrt mit eigenen Angeboten in diesem Bereich. Dies birgt die Gefahr, dass das schulische Lernen von ökonomischen Interessen beeinflusst wird. Dabei ist sowohl an eine wirtschaftskonforme Ausrichtung der Bildung zu denken als auch an eine Art von Schleichwerbung über die Verbindung der Lernprogramme mit bestimmten Markennamen. Eine aktuelle Studie von Professor Tim Engartner zur Ökonomisierung der schulischen Bildung zeigt unter anderem, dass gerade Kinder für eine solche Beeinflussung besonders empfänglich sind, da die Fähigkeit zur kritisch-distanzierten Reflexion ihres Nutzerverhaltens noch nicht so ausgeprägt ist.
5. Digitalisierung und Datenschutz
Bei der Nutzung von Programmen der großen Internetkonzerne stellt sich immer auch die Frage: Was passiert mit den Daten? Wie und wo werden sie abgespeichert? Wer nutzt sie zu welchen Zwecken? Gerade bei kostenlosen oder kostengünstigen Lockangeboten ist deshalb Vorsicht geboten. Dies gilt im Übrigen auch für die Verarbeitung von Lerndaten der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkräfte. Daraus resultieren auch neue Anforderungen für Arbeitsschutz und Arbeitsrecht: Wenn die Speicherung von Daten der Lernenden auf den Endgeräten der Lehrenden nicht sicher ist, müssen Letzteren von der Schule Dienstgeräte zur Verfügung gestellt werden. Es kann nicht sein, dass die Politik die Verantwortung für den Datenschutz auf die Lehrkräfte abwälzt.
6. Digitalisierung und Gesundheitsschutz
Die neuen Möglichkeiten, die das digitale Lernen bietet, gehen zugleich mit neuen Belastungen einher. Für die Lehrkräfte betrifft das – dies hat die GEW-Studie zur Umsetzung des Digitalpakts an den Schulen (s. S. 16 ff.) gezeigt – insbesondere die zunehmende Entgrenzung der Arbeitszeit, wie sie sich etwa durch E-Mails und Chat-Kontakte mit Lernenden und Eltern ergibt. Hier müssen klare Regeln und zeitliche Grenzen definiert werden. Die Lernenden müssen darauf achten, dass eine etwaige Neigung zur Computersucht und die Gefahr mangelnder Bewegung nicht ungewollt durch intensiveres digitales Lernen verstärkt werden.
So lässt sich festhalten: Nicht die Digitalisierung soll die Pädagogik bestimmen, sondern die Pädagogik die Digitalisierung.