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Schleswig-Holstein: Musterland mit Schattenseiten

Mit Schleswig-Holstein setzt E&W die Länderserie Inklusion fort. Das nördliche Bundesland ist in Sachen Inklusion bundesweiter Spitzenreiter. Doch hinter den Erfolgszahlen verbergen sich an vielen Schulen handfeste Probleme.

Er kippelt auf dem Stuhl, summt, steht auf und läuft zur Tafel: Patrick* hat einen seiner unruhigen Tage. „Ich bin der neue Lehrer!“, ruft er. Gisela Sauerberg lässt den Jungen gewähren. Sie unterrichtet an einer Grundschule in Schleswig-Holstein jahrgangsübergreifend 20 Kinder der 1. und 2. Klasse, vier mit besonderem Förderbedarf: Joachim ist schwerhörig, die Stimme der Lehrerin wird per Funk an sein Hörgerät übertragen. Elias braucht nach einem traumatischen Erlebnis besondere Zuwendung. Mahmud, der mit seinen Eltern aus Syrien floh, ist heute beim Deutschkurs.

Patrick ist für Sauerberg der schwierigste „Fall“: motorisch und sozial auffällig, beim Lernen langsamer als seine Altersgenossen. In der Kita erhielt er zusätzliche Betreuung, in der Schule nicht. Sauerberg weiß, dass der Junge ständig jemanden an seiner Seite bräuchte, aber das ist in der Dorfschule mit 108 Kindern und sieben Lehrkräften nur selten möglich. „Ich habe eigentlich immer ein schlechtes Gewissen“, sagt die Pädagogin.

Den Zahlen nach ist Schleswig-Holstein das Musterland der Inklusion, es führt bundesweit alle Statistiken an. Über 60 Prozent aller Kinder mit Förderbedarf besuchen Regelschulen, viele schaffen den Wechsel auf höhere Schulen (s. Kasten Länderbarometer).

Dennoch oder gerade deshalb gibt es Probleme. Zwar zeigt eine Reihe von Schulen modellhaft, wie Inklusion im besten Fall aussehen kann. Politisch ist sie – zumindest grundsätzlich – von allen Parteien gewollt. Die Regierung aus SPD, Grünen und der Partei der dänischen und friesischen Minderheiten, SSW, tritt für gemeinsamen Unterricht ein. Für die Opposition stellt CDU-Bildungspolitikerin Heike Franzen fest: „Die inklusive Beschulung ist längst Realität.“ Doch in der Praxis sind Lehrkräfte ebenso unzufrieden wie viele Mütter und Väter von Kindern mit Behinderungen. „Die Eltern wünschen sich gemeinsames Lernen, aber derzeit sind die Schulen nicht in der Lage, selbst die nötigen Standards einzuhalten“, sagt Angelika Köster-Krohn, Geschäftsführerin des Landesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen Schleswig-Holstein. Die Familien müssen die Schulbegleitung organisieren – oft ein langwieriger Kampf mit der Bürokratie, der noch erschwert wird, weil für die Kinder je nach Art ihrer Behinderung unterschiedliche Behörden zuständig sind. Sonderpädagogen kommen oft nur stundenweise in die Klassen. „Inzwischen wollen manche Mütter und Väter ihren Nachwuchs lieber in die Förderzentren schicken“, sagt Köster-Krohn. „Sie fürchten, dass ihre Töchter und Söhne an den Regelschulen nicht ausreichend gefördert werden.“

Ein Kind wie Steffen zum Beispiel. Er sitzt in der 3. Klasse der Großsolter Grundschule ganz hinten links. Nach dem Diktat unterstreicht die Banknachbarin in seinem Heft neun Fehler in zwei Sätzen. Als die Klasse darüber spricht, wie aus der Idee eines Autors ein Buch entsteht, schaltet der Junge offenkundig ab, als ginge ihn das Ganze nichts an. In der Klasse sitzen zwei weitere Inklusions-Schüler: ein Junge mit Diabetes, bei dem Lehrerin Heike Gerusel darauf achten muss, dass er nicht unterzuckert, und ein Mädchen, das als Kleinkind Schlimmes erlebt hat und nun in einer Pflegefamilie lebt. Der Kleinen ist eine Schulbegleiterin zugeteilt, Steffen hat keine.

Nicht ausgebildet

Gerusel tritt an seine Bank, schaut auf die schrägen Buchstabenreihen und bittet ihn, alles noch einmal abzuschreiben. Später berichtet sie, wie unsicher sie sich fühlt: „Was kann ich verlangen? Soll ich ihn mehr fordern oder mehr loben?“ Sie sei für den Umgang mit Förderkindern nicht ausgebildet: „Keiner von uns ist gegen Inklusion, aber wir sind dem nicht gewachsen.“

Die GEW Schleswig-Holstein schlug im September Alarm (s. Kasten). Sie fordert mindestens 1000 zusätzliche Lehrerstellen. Von der Landespolitik kommt kein Widerspruch: Dass zusätzliche Stellen wünschenswert sind, bestreitet niemand. „Die Modellrechnungen der Gewerkschaft mögen ihre Berechtigung haben“, sagt der bildungspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Martin Habersaat. Er ist aber mit Anke Erdmann (Grüne) einig: Der Haushalt des hoch verschuldeten Landes könne weitere Stellen nicht finanzieren. Schon wird diskutiert, das Tempo der Umsetzung zu verlangsamen. Habersaat hält eine „gemeinsame Kraftanstrengung von Kommunen, Land und Bund“ für notwendig.

Bildungsministerin Wara Wende (parteilos) bestätigt: „Inklusion ist eine Herausforderung für die kommenden zehn Jahre.“ Im neuen Schulgesetz steht allerdings nur ein grundsätzliches Bekenntnis. Näheres soll ein Konzept klären, an dem das Ministerium „mit Hochdruck“ arbeite, so Wende. Dabei „steht die Frage im Raum, ob es sinnvoll ist, Modellschulen der Inklusion zu entwickeln“, heißt es etwas vage aus dem Ministerium. Gemeint ist, dass Kinder mit Förderbedarf nicht mehr auf alle Schulen verteilt, sondern doch wieder an einzelnen Standorten konzentriert werden. Diese müssten „räumlich, sächlich und personell so ausgestattet sein, dass inklusive Bildung für alle Förderschwerpunkte möglich“ sei. Auch die Ausbildung künftiger Lehrkräfte steht auf der Agenda der Politik: Sie sollten sich bereits im Studium auf die Förderung sozial oder psychisch auffälliger Kinder vorbereiten. Ein weiterer Punkt ist, ob die heutigen Sonderpädagoginnen und -pädagogen fest den Regelschulen zugeteilt werden sollen. Zurzeit sind sie den Förderzentren angegliedert und wandern von Regelschule zu Regelschule.
Das Ministerium will im Frühjahr Ergebnisse vorlegen. Geht es nach der GEW, soll es bereits 2014 mehr Lehrerstellen geben. Pädagogin Gerusel in der Großsolter Schule bestätigt: „Wir wollen, dass die Kinder aus dem Dorf hier zur Schule gehen. Aber die Voraussetzungen müssen stimmen.“

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