Die GEW pflegt seit Jahren freundschaftliche Kontakte zur "Gewerkschaft der Werktätigen in Bildung und Wissenschaft" (Eğitim Sen) in der Türkei. Deren 10. Gewerkschaftskongress fand vom 26. - 28. Mai 2017 unter der Bürde des Ausnahmezustandes statt, in dem das Parlament entmachtet und das Land durch Notverordnungen regiert wird.
Re-Islamisierung
Kamuran Karaca, der ausscheidende Vorsitzende von Eğitim Sen, der zwei Wochen zuvor als internationaler Gast am GEW-Gewerkschaftstag in Freiburg teilgenommen hatte, schilderte in seiner Eröffnungsrede die dramatische und schleichende Entwicklung seines Landes in Richtung einer Re-Islamisierung. Nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 wurden im öffentlichen Dienst der Türkei mehr als 100.000 Menschen entlassen, erläuterte Karaca. Sie hätten von heute auf morgen ihre existenzielle Lebensgrundlage verloren. Zahlreiche oppositionelle Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsendungen und Internetplattformen würden und täglich mehr verboten. Journalistinnen und Journalisten, Schriftstellerinnen und Schfitsteller, Lehrkräfte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler, Ärzte, vom Volk gewählte Abgeordnete und Bürgermeisterinnen und Bürgermeister – alle, die der AKP-Regierung nicht huldigen und kritisch sind – würden bedroht, eingeschüchtert, Gewalt ausgesetzt, verschleppt und ins Gefängnis geworfen, so der scheidende Vorsitzende.
Diese Erfahrung musste auch die Eğitim Sen Frauensekretärin Ebru Yigit machen, deren Wohnung in der Türkei während ihres Besuchs beim GEW-Gewerkschaftstag Anfang Mai von der Polizei durchsucht wurde. Nach ihrer Rückkehr wurde sie zunächst verhaftet, dann aber wieder freigelassen. Trotz dieser Repressalien hat sie sich nicht einschüchtern lassen und bei den Wahlen zum Eğitim Sen Vorstand erneut kandidiert. Dort wird Ebru Yigit in Zukunft für Tarifpolitik und Arbeitsrecht zuständig sein. Mit Feray Atekin Aydogan wählten die Delegierten eine Frau zur neuen Vorsitzenden der Bildungsgewerkschaft. Neuer Generalsekretär der Eğitim Sen ist Keskin Bayindir.
Bildung versinkt im Sumpf des religiösen Fundamentalismus
Viel Kritik übten die Delegierten am Zustand der Bildung in der Türkei, die sich nach ihrer Einschätzung in einer ernsthaften Krise befindet:
- Fortschreitende Privatisierung
- übergroße Klassenstärken
- die eingeleitete Abschaffung der Koedukation
- unzureichende Infrastruktur und Gewalt in den Schulen
- Überführung öffentlicher Schulen in die Trägerschaft von Religionsgemeinschaften und fundamentalistisch geprägter Stiftungen
- Umwandlung staatlicher Schulen in Predigerschulen
- Abschaffung von zeitgemäßen Lerninhalten
- Einführung von Osmanisch und Arabisch als Schulfächer
All das sind für die türkischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter Beispiele, wie die AKP-Regierung die Re-Islamisierung des Landes voran treibt. Die Türkei entferne sich damit immer mehr von einer wissenschaftlichen, demokratischen, laizistischen Bildung, so die Ansicht der Mehrzahl angereister Delegierter. Bestehende religiöse, sprachliche und kulturelle Unterschiede und Identitäten würden dabei bewusst ignoriert. Statt Gemeinsamkeiten zu betonen, fände eine Spaltung und Ausgrenzung auf religiöser Ebene statt. Bildung – beginnend von der frühkindlichen Erziehung bis zur Hochschule – würde unter die Regeln einer bestimmten religiösen Richtung oder Sekte gestellt. Das türkische Amt für religiöse Angelegenheiten DIYANET übernimmt gemeinsam mit Religionsgemeinschaften, Sekten, Vereine und Stiftungen, die der Regierung nahe stehen, eine führende Rolle. Sie bestimmten Inhalte und Curricula der Bildung, stellten die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter während der Beratungen fest.
Internationale Solidarität für Eğitim Sen immer wichtiger
In solchen Zeiten benötigen die Eğitim Sen-KollegInnen mehr als je zuvor internationale Solidarität. Rund 1.450 Mitglieder von Eğitim Sen wurden seit dem 15. Juli 2016 vom Dienst suspendiert. Egitim Sen unterstützt Gewerkschaftsmitglieder, die über Nacht ihre Arbeit verloren und auf der Straße standen, materiell mit monatlichen Spenden. Man hofft, dass sie durch verwaltungsgerichtliche Verfahren, die durch die Verschleppungspolitik der Gerichte leider Jahre dauern können, ihre Stellen wiederbekommen und rehabilitiert werden. Wegen der Einschüchterungspolitik der AKP-Regierung haben allerdings auch Tausende von Mitgliedern in den letzten sechs Monaten die Eğitim Sen verlassen in der Hoffnung, von Sanktionen verschont zu bleiben. Die Kolleginnen und Kollegen von Eğitim Sen freuen sich sehr über jede Solidaritätserklärung der Schwestergewerkschaften und über jegliche materielle und immaterielle Unterstützung aus dem Ausland. Die autoritäre Entwicklung des Landes, die Nicht-Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit, die Unterdrückung der Minderheitenrechte müssten auf internationaler Ebene stärker und deutlicher angeprangert werden, so die Forderung an die Schwestergewerkschaften.
Gewerkschaftskongress unter Bedingungen des Ausnahmezustands
Aus allen Regionen der Türkei waren die 515 Delegierten nach Ankara angereist, um am Kongress ihrer Gewerkschaft teilzunehmen. Im Saal spiegelten sie die kulturelle und politische Vielfalt des Landes wider. Als Gäste aus der Türkei nahmen der Lehrer und Präsident der KESK (Dachverband der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst), Lami Özgen, sowie RepräsentantInnen der in der KESK vertretenen Gewerkschaften am Kongress teil. Auch zahlreiche Abgeordnete der CHP (Republikanische Volkspartei) und der HDP (Demokratische Partei des Volkes), deren Vorsitzende derzeit in Haft sind, waren gekommen und sprachen der Eğitim Sen für ihren entschiedenen Kampf für Demokratie und Menschenrechte sowie für eine laizistische Bildung ihre uneingeschränkte Solidarität und Unterstützung aus. Neben der GEW waren VertreterInnen der Gewerkschaften DLF (Dänemark), SNES-FSU (Frankreich), OLME und DOE (Griechenland), KTOES und DAU-SEN (Zypern), NASUWT (Großbritannien) und AOB (Niederlande) sowie der europäischen Regionalorganisation der Bildungsinternationale, ETUCE, der Einladung in die türkische Hauptstadt gefolgt.