Zum Inhalt springen

Sachsen: Mehr Augenmaß

Die Länderserie Inklusion, die E&W im vergangenen Jahr gestartet hat, setzen wir im Januar mit Sachsen fort. Der Freistaat hinkt anderen Ländern weit hinterher und nähert sich nur langsam der Umsetzung eines inklusiven Lernens.

Eigentlich hatte Dorothea es gut. Sie besuchte die Grundschule Jesewitz bei Leipzig, lernte Lesen und Schreiben, hatte viele Bücher, Freunde und konnte etwas Englisch. Sie war voll integriert. Doch als die 4. Klasse zu Ende ging, machte Sachsens Kultusbürokratie die Schotten dicht: Ab der 5. Klasse sollte das Mädchen mit Down-Syndrom erstmals auf eine Förderschule für geistig Behinderte gehen. Begründung: Die Schulverordnung erlaube an weiterführenden Schulen keine lernzieldifferente Integration. Punkt.

Doch ihre Eltern Antje und Cornelius Kreß schrieben Briefe an die Landesregierung, stellten Anträge bei Behörden und als sie kein Gehör fanden, klagten sie vor dem Verwaltungsgericht Leipzig. Immerhin erstritten sie kurz vor Sommerferienende einen Erfolg auf Zeit: Dorothea besucht jetzt mit Unterstützung ihrer Schulassistentin die reguläre Oberschule in ihrer Nachbarschaft, die integrativ und heterogen unterrichtet. „Die ganze Schule gibt sich sehr große Mühe. Dorothea geht sehr gern hin und macht Fortschritte“, erzählt die Mutter. Drei Stunden kommt eine externe Förderlehrerin, um die 13-Jährige und ihre Lehrkräfte zu unterstützen, zwei Integrationsstunden wurden dem Kollegium zugestanden. Doch Dorothea ist eine von nur wenigen Schülerinnen und Schülern mit geistiger Beeinträchtigung, die eine öffentliche Regelschule in Sachsen besuchen. Und das auch nur vorerst. Die Eilentscheidung der Leipziger Richter ist in der Hauptsache noch offen. „Man macht es uns so schwer wie möglich“, beklagen die Eltern.

Es ist eine Geschichte, die Bände spricht über den Freistaat. Denn der Einser-Schüler bei PISA-Tests und bundesweiten Rankings ist bei der flächendeckenden Umsetzung der Inklusion gemäß der UN-
Behindertenrechtskonvention ein Sitzenbleiber. So lag der Anteil der Schüler mit Handicap, die integrativ beschult werden (von inklusivem Unterricht wird im Freistaat kaum gesprochen), im deutschen Vergleich bis vor kurzem auf den hinteren Rängen und erreicht erst langsam bundesweiten Durchschnitt (s. Kasten Länderbarometer S. 24). Das Schulgesetz ist völlig veraltet und sieht bis heute keine lernzieldifferenzierende Beschulung vor. Und vor der Landtagswahl im August 2014 wird das „heiße Eisen“ Inklusion nicht mehr angepackt.

Tippelschritte

An vielen Regelschulen hat sich die Inklusion dennoch in den Alltag eingeschlichen. Lars Stange zum Beispiel, Lehrer am Humboldt-Gymnasium Radeberg bei Dresden, unterrichtet nun auch Schüler mit Förderbedarf, darunter ADHS-Kinder und Autisten. Da er eine engagierte Schulleiterin habe, habe das Gymnasium einige Schüler mit Förderbedarf aufgenommen, erzählt der 47-Jährige. „Es hat sich so ergeben – und wir müssen uns dem stellen.“ Unterstützung bekommt er von einem eigens gebildeten Integrationsteam der Schule, das Hilfen anbietet, Unterrichtsbegleitung wie auch Gespräche mit Kollegen, Eltern und Schülern organisiert. „Vieles macht man intuitiv“, sagt Stange. „Aber man kann an seine Grenzen stoßen.“

Bei der GEW Sachsen stößt die Zurückhaltung der Politik auf deutliche Kritik. Sie fordert mehr Pädagogen und insbesondere mehr sonder- und förderpädagogisch ausgebildete Lehrkräfte, um eine inklusive Schule realisieren zu können (s. Kasten). Doch bisher ist Sachsen davon weit entfernt. Die Regierung hat lediglich einen Aktions- und Maßnahmenplan erarbeitet, der eine Inklusion in Tippelschritten vorsieht. Das Land will zunächst bis 2015 in vier Modellregionen Erfahrungen mit der Inklusion von der Kita bis zur Berufsbildung sammeln. So sollen eine lernzieldifferente Integration in der Sekundarstufe I erprobt und Fördermaßnahmen entwickelt werden. Doch lediglich 123 Schüler mit Förderbedarf an 22 Schulen sind daran beteiligt. Im großen Rest des Landes entscheidet nach wie vor die Bildungsagentur, ob ein Schüler integrativ unterrichtet wird – und nicht der Elternwille. „Dies ist ein klarer Verstoß gegen die UN-Konvention“, beklagt die frühere GEW-Vorsitzende, ehemalige sächsische Wissenschaftsministerin und heutige SPD-Landtagsabgeordnete Eva-Maria Stange.

Politische Taktik

Die Zurückhaltung ist keineswegs nur dem rigiden Sparkurs des Ost-Landes und dem wachsenden Lehrkräftemangel zuzurechnen. Die Vorsicht ist schulpolitisch gewollt. CDU-Kultusministerin Brunhild Kurth: „Der Weg der Inklusion kann auch falsch sein. Nämlich dann, wenn Inklusion um jeden Preis durchgesetzt werden soll und dem Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf schadet.“ Der Unterricht eines Kindes mit geistiger Einschränkung in einer Förderschule biete vielmehr die Chance, ein Kind gezielt zu fördern. „Das kann nur im Einzelfall entschieden werden“, betont Kurth. „Es darf keinen Automatismus für die eine oder andere Schulform geben.“ Die Politik sei daher gut beraten, betont die Ministerin immer wieder, die UN-Konvention „schrittweise und mit Augenmaß“ umzusetzen. Im Fall von Dorothea hätte wohl ein Mehr an Augenmaß geholfen.

Links