Helmut Holter (Linke), seit August 2017 Bildungsminister in Thüringen, hat 2018 turnusgemäß die Präsidentschaft in der Kultusministerkonferenz übernommen. Von 1998 bis 2006 war er Minister für Arbeit, Bau und Landwirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern, von 2009 bis 2016 Fraktionsvorsitzender der Linken im dortigen Landtag. Zu DDR-Zeiten war Holter unter anderem von 1987 bis 1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung Neubrandenburg. Die „E&W“ sprach mit Holter unter anderem darüber wie wichtig die Auseinandersetzung mit Diktaturen für Demokratiebildung sei.
- E&W: Herr Minister Holter, Sie haben als neuer KMK-Präsident Demokratieerziehung zum Schwerpunkt Ihrer Amtszeit erklärt. Warum?
Helmut Holter: Zum einen, weil ich demokratiefeindliche Tendenzen in der Gesellschaft ausmache, gerade unter jungen Leuten. Ich sehe es daher als notwendig an, den historisch-politischen Kontext unserer jüngeren Geschichte stärker in den Fokus zu rücken. Jugendliche im Osten wollen mehr über die deutsche Geschichte nach 1945, insbesondere über die DDR und das geteilte Deutschland, wissen. Es gibt aber einen zweiten wichtigen Aspekt: Wir beobachten unter Heranwachsenden sowohl eine zunehmende Verrohung der Sprache, die zur Hasssprache wird, als auch ein größeres Ausmaß an – nicht politisch motivierter – Gewalt. Das sind Gründe, weswegen wir Demokratieerziehung und -bildung fördern müssen.
- E&W: Wie war die Resonanz Ihrer KMK-Kolleginnen und -Kollegen auf die Wahl Ihres Schwerpunktes?
Holter: Als ich die KMK-Präsidentschaft im Januar übernommen habe, gab es breite Zustimmung. Denn das, worüber wir reden, über Demokratiedefizite, ist nicht nur ein Problem Thüringens, sondern der gesamten Republik. Das Interesse der KMK, über die neuen Demokratieempfehlungen auf Fachtagungen und Veranstaltungen zu diskutieren, ist groß – und zwar parteiübergreifend.
- E&W: Es geht Ihnen um eine stärkere Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur im Unterricht. Welche Rolle spielt ihre eigene politische Biografie bei der Wahl Ihres Schwerpunktes?
Holter: Ich bin in der DDR sozialisiert worden, war Mitglied der SED und habe Teile meiner fachlichen und politischen Ausbildung in Moskau absolviert. Das hat mich geprägt. Ich habe in Moskau die Glasnost-Bewegung erlebt, war also Zeitzeuge des Umbruchs. Ich habe mich in der DDR auch aktiv daran beteiligt. Damals ist mir klar geworden: Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit sind keine Geschenke, sondern müssen täglich erfahren und verteidigt werden – im Kleinen wie im Großen.
- E&W: 2019 werden die Weimarer Verfassung 100 und das Grundgesetz 70 Jahre alt, der Mauerfall ist dann 30 Jahre her. Wie will die KMK diese historischen Daten bildungspolitisch nutzen?
Holter: Zum einen gehe ich davon aus, dass die KMK im zweiten Halbjahr überarbeitete Empfehlungen zur Demokratiebildung verabschieden wird. Zum anderen soll zu den genannten historischen Daten eine Reihe von Veranstaltungen stattfinden – im Juni beispielsweise eine öffentliche Diskussion in Erfurt unter dem Motto: „Was bleibt vom 20. Jahrhundert?“
- E&W: Reicht das als Anstoß für Demokratieerziehung aus?
Holter: Demokratieerziehung muss sich wie ein roter Faden durch alle Fächer ziehen. Junge Menschen müssen zum Beispiel damit umgehen lernen, dass es Kinder mit Fluchthintergrund in ihren Klassen gibt, mit Beeinträchtigungen. Dafür müssen sie soziale Kompetenz entwickeln. Andererseits möchte ich Schüler auch emotionaler an historische Themen heranführen. Etwa durch Gedenkstättenfahrten. Thüringen hat ja mit dem KZ Buchenwald, aber auch mit der Firma „Töpfer und Söhne“, die Verbrennungsöfen für Auschwitz hergestellt hat, einen ganz konkreten Bezug zur Zeit des Faschismus.
- E&W: Wurde da bisher etwas versäumt?
Holter: Darum geht es nicht. Lehrkräfte haben heute eine Vielzahl von Herausforderungen zu meistern. Ich stelle nur fest, dass es im Fachunterricht nicht so gelungen ist, über das, was beispielsweise in der DDR passiert ist, intensiv zu diskutieren. Das wollen wir ändern.
- E&W: Sie beklagen die Erfolge der AfD, den Zulauf Jüngerer zu Rechtsextremen und Rechtspopulisten. Setzen sich die Schulen im Osten zu wenig mit menschenfeindlichen und rechtsradikalen Einstellungen auseinander?
Holter: Die Frage stellt sich im Westen genauso. Das besondere Problem des Ostens ist, dass die Aufarbeitung der DDR-Geschichte noch nicht abgeschlossen ist und die notwendigen Schlussfolgerungen aus der Zeit der Diktatur nicht gezogen wurden. Die Auseinandersetzung mit dieser Periode muss viel stärker geführt werden. Dazu gehört Wissen, um das DDR-System politisch einordnen zu können. Aber es geht nicht nur um Vermittlung von Fakten, sondern auch um die Kompetenz, Diktaturen bewerten und Schlussfolgerungen ziehen zu können. Es gibt kaum einen anderen Ort als Schule, der das leisten könnte. Aber Lehrkräfte müssen auch motiviert dafür sein.
- E&W: Hapert es daran?
Holter: Ja, weil Lehrkräfte, die noch zur DDR-Zeit an den Schulen unterrichteten oder ausgebildet wurden, Stellung beziehen müssen. Und zwar zu einem System, an dem sie sich beteiligt haben. Das heißt, es ist immer zuerst eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit der jeweiligen Rolle in der DDR. Das habe ich mit meiner Rolle gemacht, deswegen rede ich so frei darüber. Wenn man als Lehrkraft in der Lage ist, die eigene Funktion im SED-Staat zu problematisieren, setzt man sich authentisch mit DDR-Geschichte auseinander. Erst dann kann man auch authentisch für Demokratie streiten.
- E&W: Das erfordert Aufrichtigkeit und Mut.
Holter: Richtig. Aber Kinder sind ja sehr sensibel, sie spüren schnell, ob eine Lehrkraft DDR-Geschichte lediglich als Pflichtprogramm unterrichtet oder ob dem ein Prozess inneren Ringens vorausging, nach der Wende etwas zu vertreten, was im Gegensatz zu dem steht, was man vor 30 oder 35 Jahren vertreten hat.
- E&W: Das Verdrängen und Schweigen über die Vergangenheit hat es im Westen nach 1945 doch auch gegeben. Da fand lange keine Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit statt.
Holter: Das stimmt. Im Osten geht es um die Frage, was die SED-Führung mit den Menschen gemacht hat. Wie der Stalinismus funktioniert, wie er in eine Schule, einen Betrieb hineingewirkt und Menschen in dieses System eingebunden hat. Die Auseinandersetzung damit ist ein schwieriger Prozess. Aber ich halte ihn für nötig.
- E&W: Kann Schule diese Aufarbeitung leisten?
Holter: Es gibt in Thüringen entsprechende Weiterbildungsprogramme der Landeszentrale für politische Bildung. Auch die Bundeszentrale, die Stiftungen der Parteien machen Angebote, politische Bildung in den Schulen zu stärken. Lehrerinnen und Lehrer müssen befähigt werden, Demokratiebildung umzusetzen. Lehrkräfte müssen in der Lage sein, deutlich zu machen, dass es demokratische Alternativen zu Rechtspopulisten und rechtsextremen Gruppen gibt. Es ist ganz wichtig, jungen Leuten klarzumachen, dass Politik sie angeht.
- E&W: Damit gewinnt das Fach Politische Bildung an Bedeutung. Warum haben Sie das nicht in den Fokus gerückt?
Holter: Weil ich der Meinung bin, Demokratiebildung kann man nicht ausschließlich auf bestimmte Fächer beschränken. Sie ist der Leitfaden im Schulalltag. Junge Menschen müssen erleben, wie Demokratie funktioniert.
- E&W: Demokratieerziehung als Leitfaden hat Geschichte: Von 2002 bis 2007 förderte die Bund-Länder-Kommission (BLK) das Projekt „Demokratie lernen und leben“. 2009 gab es einen KMK-Beschluss zur „Stärkung der Demokratieerziehung“, und Ende 2014 hat die KMK Empfehlungen zur Erinnerungskultur „Erinnern für die Zukunft“ verabschiedet. Das war alles nicht so erfolgreich. Waren diese Projekte zu sehr auf Partizipationskultur angelegt und zu wenig auf Förderung kritischen Bewusstseins?
Holter: Schwer zu sagen. Die KMK-Empfehlungen von 2009 werden wir jetzt überarbeiten. Ich bin überzeugt, dass die offene Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen und europäischen Geschichte gefördert werden muss. Die Frage ist: Wie vermittle ich historische Ereignisse wie den Mauerfall? Und was erwarte ich von den Schülerinnen und Schülern? Sollen sie bloß Daten und Fakten über geschichtliche Perioden erfahren? Oder lernen, Geschichte zu analysieren und Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen? Für mich steht fest: Junge Menschen sollen befähigt werden, eigene und fremde Denkstrukturen und Weltbilder zu hinterfragen.