Nachhaltiges Lernen
Raus aus dem Klassenzimmer!
Wie wollen wir in Zukunft leben und welche Formen des Lernens braucht es, um das zu erreichen? Das Oberstufen-Kolleg Bielefeld sucht nach Antworten – nicht nur in der Schule, sondern auch im Wald.
Vilamor do Courel, ein Bergdorf mitten in Galicien. Vor genau zwei Jahren sind hier in der Gegend bei einem großen Waldbrand mehr als 12.000 Hektar Natur in Flammen aufgegangen. Jahrhundertealte Kastanienkulturen, ein Biosphärenreservat, künstliche Kiefernforste: alles zerstört. „Das ist eine riesige Fläche verbrannter Wald“, sagt Fiona Steinbrenner. „Zu erleben, dass damit Leid von echten Menschen verbunden ist – das macht etwas mit einem auf emotionaler Ebene. Für mich war das tatsächlich lebensverändernd.“
Die Abiturientin war vergangenes Jahr mit einer Gruppe Mitschülerinnen und -schüler sowie Lehrkräften in Galicien, um eine Kooperation mit einer örtlichen Partnerschule in die Wege zu leiten. Ziel der grenzüberschreitenden und vom europäischen Erasmus-Programm geförderten Zusammenarbeit ist es, Ansätze zur Wiederherstellung von Waldökosystemen in der Praxis zu testen. Durch gemeinsame Pflanzaktionen sowie damit verbundene Forschungen und Datensammlungen sollen letztlich passende Wege gefunden werden, dem Klimawandel zu trotzen.
„BNE-Kompetenzen nehmen in den fachlichen Kernlehrplänen noch zu wenig Raum ein. Sie sind nicht prüfungs- und damit oft leider auch nicht unterrichtsrelevant.“ (Christian Schweihofen)
Das Oberstufen-Kolleg Bielefeld hat in den vergangenen Jahren diverse Praxisprojekte gestartet, die das Thema Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen: nicht nur in Galicien, sondern auch im Thüringer Wald und im Raum Bielefeld. Am Beispiel des Ökosystems Wald thematisieren diese „Waldpartnerschaften“ die Folgen und Szenarien des Klimawandels und wollen dabei mögliche Handlungsoptionen nicht nur in verschiedenen Unterrichtsfächern besprechen, sondern auch praktisch erproben und untersuchen.
„BNE-Kompetenzen nehmen in den fachlichen Kernlehrplänen noch zu wenig Raum ein. Sie sind nicht prüfungs- und damit oft leider auch nicht unterrichtsrelevant“, macht Biologie- und Sportlehrer Christian Schweihofen deutlich. Angesichts der aktuellen Herausforderungen sei das allerdings nicht angemessen: „Wir brauchen fächerübergreifendes Denken, demokratisches Handeln und wissenschaftliches Arbeiten, um artenreiche, komplexe und damit stabilere Ökosysteme zu erhalten oder wiederherzustellen.“
Ohne intakte Natur keine soziale Gerechtigkeit
Die 17 Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen bilden einen ganzheitlichen Ansatz, den Klimawandel einzudämmen sowie Armut, Hunger und soziale Ungleichheiten zu bekämpfen. Und auch, wenn sie gleichberechtigt nebeneinanderstehen, ist klar: Gesellschaften können nur in intakten Umwelten überleben, darum ist der Erhalt der Lebensräume die Basis für alles andere und bedarf besonderer Beachtung. „Wenn wir soziale Gerechtigkeit wollen, müssen wir uns mit der Natur und der Schonung von Ressourcen auseinandersetzen“, meint Chemie- und Biologie-Lehrer Andreas Stockey. „Für uns ist es deswegen wichtig, das Wirkungsgefüge aus Ökologie, Ökonomie und sozialer Gemeinschaft am Beispiel Wald zu behandeln.“
Als Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) erprobt das Oberstufen-Kolleg neue Lernformen und Möglichkeiten, die anderen Schulen so noch nicht zur Verfügung stehen. So wird zum Beispiel jedes Semester durch zweiwöchige Projektphasen abgeschlossen. Zudem wählen die Kollegiatinnen und Kollegiaten neben den als Studienfächer verstandenen Leistungskursen auch ein fächerübergreifendes Profil, das drei Grundkurse verknüpft und ein bestimmtes Leitthema aus mehreren Blickwinkeln beleuchtet.
„Wir wollen Kompetenzen und Fähigkeiten zur nachhaltigen, sozial-ökologischen Mitgestaltung vermitteln, einüben und anwenden lassen. Das braucht Zeit und Wiederholungen und geht nicht in einer Tagesveranstaltung.“
Eines der BNE-Profile, „Tomorrowland – wie wollen wir leben?“, ist beispielsweise aus den Grundkursen Biologie, Englisch und Theologie zusammengesetzt. Dass die drei Fächer einmal in der Woche hintereinander stattfinden, ist die Voraussetzung dafür, bei Bedarf in den Wald fahren und dort praktisch arbeiten zu können. „Wir wollen Kompetenzen und Fähigkeiten zur nachhaltigen, sozial-ökologischen Mitgestaltung vermitteln, einüben und anwenden lassen“, betont Schweihofen. „Das braucht Zeit und Wiederholungen und geht nicht in einer Tagesveranstaltung.“
Ein Ansatz, der bei den Schülerinnen und Schülern offenbar fruchtet. Arsenij Schumilow war bei einer zweiten Reise nach Galicien mit dabei und hat beim Pflanzen von Bäumen geholfen. Seitdem weiß er aus eigener Anschauung, wie der Klimawandel in manchen Gegenden schon jetzt den Menschen ihre Lebensgrundlagen nimmt sowie soziale, infrastrukturelle und wirtschaftliche Benachteiligungen noch verschärft. „Ich habe mich eigentlich immer mehr für Mathe und Informatik interessiert“, berichtet der 17-Jährige. „Aber mir ist klar geworden, dass die Welt eben nicht nur aus Zahlen und Tabellen besteht. Darum frage ich mich jetzt verstärkt, was ich eigentlich machen will mit meinem Leben.“
„Mir hat es extrem geholfen zu erfahren, dass wir zwar in einer schwierigen Situation sind – aber in keiner unlösbaren.“ (Greta Engelbrecht)
Auch bei Justine Ziegenhals hat das BNE-Profil ein nachhaltiges Interesse für Zusammenhänge des Klimawandels und wissenschaftliches Arbeiten geweckt. Die 19-Jährige hat zweieinhalb Jahre lang im Rahmen einer besonderen Lernleistung im „Zukunftswald Unterschönau“ in Thüringen untersucht, welche Bäume in welchen Höhen unter welchen Bedingungen besser oder schlechter wachsen. „Dieser wissenschaftliche Aspekt fehlt an Regelschulen fast komplett, dabei ist der so wichtig“, meint sie. „Je länger ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, umso mehr Möglichkeiten konnte ich in den Blick nehmen.“
Mit der Effektivität unterschiedlicher Wuchshüllen zum Schutz junger Bäume vor Wildverbiss hat sich Greta Engelbrecht auseinandergesetzt. „In der Praxis zu sehen, welche Konsequenzen der Klimawandel tatsächlich hat, hat auch psychische Auswirkungen auf uns“, macht die 19-Jährige deutlich. „Das ist nicht immer einfach. Aber Verunsicherung ist ein wichtiger Punkt, um das Problem überhaupt zu erkennen und dann damit umzugehen. Mir hat es extrem geholfen zu erfahren, dass wir zwar in einer schwierigen Situation sind – aber in keiner unlösbaren.“ Keine Ängste schüren – das sei den Lehrkräften ganz wichtig, betont Biologie- und Informatiklehrer Holger Bekel-Kastrup. „Wir wollen motivieren, ins Handeln zu kommen. Und vermitteln, dass es Lösungen gibt. Man muss sich nur aus alten Gewohnheiten lösen.“
Zusammenarbeit mit externen Partnern und anderen Schulen
Bei allen Praxisprojekten arbeitet das Oberstufen-Kolleg mit externen Partnern zusammen, die nicht nur ihre Expertise, sondern auch andere Perspektiven mit einbringen. Im Fall der Waldpartnerschaften rund um Bielefeld ist es das Regionalforstamt Ostwestfalen-Lippe, dessen Ranger Aaron Gellern in der Kooperation viele Vorteile sieht. „Da lernen beide Seiten von-einander“, ist er überzeugt. „Es ist immer gut, sich neuen Ideen zu öffnen – und das geht nur, wenn man über den Tellerrand hinausschaut.“ Der Wald sei die Zentrale des gesamten Lebens und Überlebens, betont Gellern, der besonders die Langfristigkeit der Untersuchungen schätzt. Dass die gewonnenen Erkenntnisse von Jahrgang zu Jahrgang weitergegeben würden, sei ein wichtiger Punkt: „So kommen wir vielleicht irgendwann zu Ergebnissen, die tatsächlich zukunftsweisend für den Wald sein können.“
Neben den Kooperationen mit außerschulischen Partnern bildet das Oberstufen-Kolleg gerade auch ein Netzwerk mit anderen Schulen, um das Thema BNE großflächiger voranzubringen. „Als Versuchsschule gehört es zu unseren Aufgaben, Konzepte wie das fächerübergreifende und wissenschaftspropädeutische Arbeiten, Projektarbeit und alternative Prüfungsformen an aktuellen, pädagogisch relevanten Themen weiterzuentwickeln und zu erproben“, erläutert Stockey. „Das ist dann keine Blaupause für Regelschulen. Aber es zeigt Anregungen auf und stellt Materialien zur Verfügung, die es etwas leichter machen, Dinge auf den Weg zu bringen.“ Entscheidend sei, dass BNE ein wichtiges Bildungselement in den fachlichen Kernlehrplänen werde, das die gleiche Bedeutung wie klassische Schwerpunktfächer bekomme.
„Auch wenn solche Neuerungen am Anfang viel Energie brauchen – es ist eine sehr bereichernde und zufriedenstellende Arbeit für alle Beteiligten, sich über längere Zeit mit etwas zu befassen und dann auch die Ergebnisse zu sehen.“ (Andreas Stockey)
Das Land NRW, so Stockey, stärke künftig aber auch die Projektkurse zur ergänzenden Umsetzung entsprechender Inhalte, die laut eines aktuellen Eckpunktepapiers für die Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe nun obligatorisch würden. Sein Rat an andere Schulen: „Auch wenn solche Neuerungen am Anfang viel Energie brauchen – es ist eine sehr bereichernde und zufriedenstellende Arbeit für alle Beteiligten, sich über längere Zeit mit etwas zu befassen und dann auch die Ergebnisse zu sehen.“
Wie alle Kollegiatinnen und Kollegiaten hat auch Steinbrenner vorher eine Regelschule besucht. „Bei dem dortigen Frontalunterricht im formalisierten Rahmen war es schwierig, einen Bezug zu den Unterrichtsinhalten herzustellen“, sagt die Abiturientin rückblickend. Im BNE-Profil dagegen würden die Dinge wirklich greifbar und damit auch begreifbar, was eine echte intrinsische Motivation schaffe. „Du hast die Konfrontation mit dem Problem, aber gleichzeitig wirkst du an der Lösung mit. Das Letztere ist genauso schön, wie das Erstere schrecklich ist.“