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Radikalisierung durch Verschwörungserzählungen

„Radikalisierungsverläufe sind sehr individuell“

Für Lehrkräfte sei es eine Herausforderung, konkrete Anzeichen für Radikalisierungstendenzen bei Jugendlichen zu erkennen, sagt der Soziologe Björn Milbradt im E&W-Interview.

Björn Milbradt ist Leiter der Fachgruppe Politische Sozialisation und Demokratieförderung am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in Halle an der Saale und Mitherausgeber des „Handbuch Radikalisierung im Jugendalter“. (Foto: DJI)
  • E&W: Warum radikalisieren sich Jugendliche – unabhängig davon, ob sie sich etwa dem Rechts-, Links- oder islamischen Extremismus zuwenden?

Björn Milbradt: Radikalisierung im Jugendalter ist ein Phänomen, bei dem viele Faktoren zusammenspielen. Wir haben in einem Forschungsprojekt Interviews mit Jugendlichen geführt, die sich dem gewaltorientierten Islamismus zugewandt haben. Da hat sich gezeigt: Radikalisierungsverläufe sind sehr individuell. Was aber eine erhebliche Rolle spielt, sind Aspekte wie schwierige Familienkonstellationen oder Krisenerfahrungen. Wenn Jugendliche sich in einer unsicheren Phase ihres Aufwachsens befinden und dann mit extremistischen Akteuren in Verbindung kommen, kann eins ins andere greifen. Und natürlich spielt das gesellschaftliche Klima vor Ort eine Rolle: Wenn ich etwa in einer Region aufwachse, in der es eine unwidersprochene Sichtbarkeit rechtsradikaler Akteure gibt, steigt die Wahrscheinlichkeit, auch entsprechende Normalitätsvorstellungen zu entwickeln.

  • E&W: Gibt es einen bestimmten Typ junger Menschen, der anfälliger für eine Radikalisierung ist?

Milbradt: Es gibt diese Klischeevorstellung des Jugendlichen, der keine Freunde hat, alleine vor dem Computer hockt und sich radikalisiert. Der allergrößte Prozentsatz der Jugendlichen, die ein bisschen zurückgezogen leben, radikalisiert sich aber nicht. Wenn man sich allerdings die Biografien rechtsextremer Attentäter wie die des Norwegers Anders Breivik ansieht und Fälle vergleicht, gibt es schon bestimmte Muster. Anfälliger sind häufig junge Männer, die in der Beziehungsgestaltung und beim Start ins Leben insgesamt scheitern und über rechtsextreme Ideologie und Frauenfeindlichkeit ihre Persönlichkeit stabilisieren.

  • E&W: Das von Ihnen mit herausgegebene „Handbuch Radikalisierung im Jugendalter“ analysiert nicht nur die Rolle von Familie und Biografie, -sondern auch der Peergroups, Jugendkulturen, des Geschlechts, der Medien, radikalen Milieus und Gewalt. Gibt es dabei eine Priorisierung?

Milbradt: Familie und Biografie sind erhebliche Faktoren. Es gibt in der Autoritarismus-Forschung Befunde, dass insbesondere ein unsicherer Bindungsstil der Eltern dazu beitragen kann, dass Menschen autoritäre Haltungen entwickeln oder entsprechende Gesellschaftsordnungen bevorzugen. Diese Erkenntnis darf man aber nicht auf Familie im engen Sinne beschränken. Familie ist immer ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse.

 

  • E&W: Für Radikalisierungsprozesse werden oft auch soziale Medien verantwortlich gemacht. Aber kann mich extremistische Propaganda nicht nur dann erreichen, wenn es schon eine gewisse Basis gibt?

Milbradt: Das Hauptziel politischer Bildung – schulisch und außerschulisch – lautet politische Mündigkeit. Das heißt, dass jemand in der Lage ist, selbstbestimmt und kritisch über Politik und Gesellschaft zu urteilen und Propaganda zu erkennen. Insofern würde ich schon sagen, dass in der politischen Sozialisation und der Medienkompetenz bereits etwas schiefgelaufen ist, wenn jemand völlig unbedarft im Internet auf Verschwörungsideologien trifft und diese zu seiner oder ihrer Weltanschauung macht.

  • E&W: Was kann Schule tun, um Radikalisierungsprozessen entgegenzuwirken?

Milbradt: Eigentlich hat, wie beschrieben, schon der Politikunterricht die Funktion, dass es erst gar nicht zu solchen Entwicklungen kommt. Man kann aber nicht alles auf die Schule abwälzen, weil politische Sozialisation so viele Facetten hat. Für Lehrkräfte ist es eine Herausforderung, konkrete Anzeichen für Radikalisierungstendenzen bei Jugendlichen zu erkennen.

  • E&W: Wie kann ich das als Lehrkraft?

Milbradt: Jugend ist auch eine Phase der politischen Entwicklung und Selbstpositionierung, in der vielleicht auch mal unterschiedliche Weltbilder „ausprobiert“ werden. Insofern muss man differenzieren, ob jemand nur mal kurz Berührungspunkte mit radikalen Ansichten hat oder es Anzeichen dafür gibt, dass sich Ideologien verfestigen. Das erkennt man etwa beim Rechtsextremismus an bestimmten Symbolen auf T-Shirts, an der Musik, die gehört wird, oder einer Organisation, in der der Jugendliche aktiv ist. Hier gibt es mittlerweile vielfältige Informationsangebote. Die Einbettung dieser Themen in universitäre oder schulische Curricula hat noch Luft nach oben. Grundkenntnisse zu Radikalisierung, Rassismus und Antisemitismus sollten Standard für Lehrkräfte, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter sowie Sozialpädagoginnen und -pädagogen sein.