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Coronapandemie - eine Zwischenbilanz

„Prüfungen sind nicht alles“

Schulen müssen sich nach Corona wandeln. Dazu bedürfe es einer nationalen Strategie, sagt der Geschäftsführende Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF), Prof. Kai Maaz.

Bildung gelingt nach wie vor am besten durch persönliche Bindung. (Foto: mauritius images/Wavebreakmedia)
  • E&W: Seit Beginn der Pandemie kennen Schülerinnen und Schüler ihre Schule oft nur von „außen“. Welche Jahrgänge leiden am stärksten darunter?

Prof. Kai Maaz: Dazu liegen uns bislang keine ausreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse vor. Schätzungen gehen davon aus, dass 15 bis 20 Prozent von ihnen mit Lernproblemen zu kämpfen haben. Die Altersgruppen sind ganz unterschiedlich betroffen. Da sind jene, die rätseln, wie ihre Abschlussprüfungen ablaufen werden. Besonders aber werden die Erst- und Zweitklässler in Mitleidenschaft gezogen. Ihnen fehlt das persönliche Verhältnis zur Lehrkraft und damit eine ganz wichtige Basis fürs Lernen.

  • E&W: Wie sollen Lehrkräfte nach Wochen des Distanzunterrichts, ohne Tests und Klassenarbeiten den Wissens- und Leistungsstand ihrer Schülerinnen und Schüler einordnen?

Maaz: Ich bin überzeugt, dass sich die meisten auch im Distanzunterricht ein Urteil gebildet haben. Tests sind ja nicht alles. Es gibt andere Möglichkeiten, den Leistungsstand zu erheben. Lehrkräfte konnten und können Kleingruppen bilden, diese selbstständig arbeiten lassen und sich anhand der Ergebnisse ein Bild machen. Nur eines ist sicher: Leistungsfeststellung in der bisherigen Form ist jetzt kurzfristig nicht möglich. Zumal ich dazu rate, mit eventuellen Resultaten sehr vorsichtig umzugehen. Besonders, wenn Noten vergeben werden.

  • E&W: Warum?

Maaz: Es besteht die Gefahr, dass die Kinder und Jugendlichen „bestraft“ werden, die zu Hause nicht die erforderliche Unterstützung erhalten, die möglicherweise aber auch nicht über die notwendige technische Ausstattung verfügen, oder die in Regionen leben, in denen das Internet ständig zusammenbricht.

  • E&W: Nehmen Bildungsbenachteiligungen zu?

Maaz: Die in Deutschland seit langem feststellbare und zu beklagende Verbindung von Bildungserfolg und Familienhintergrund droht sich durch die Verlagerung des Unterrichts in die Distanz zu verfestigen. Meines Erachtens müssen Diagnose und Förderung viel stärker als bisher als Einheit verstanden werden. Dafür wurden beispielsweise auch die Vergleichsarbeiten in Klasse 3 und 8 eingeführt. Deren Rückmeldungen müssen Anlass dafür sein, mit Hilfe der Angebote der Qualitäts- bzw. Landesinstitute zu überprüfen, welches fachliche Verständnis bei den Schülerinnen und Schülern vorhanden ist und wie es gezielt gefördert werden kann. Das geschieht bislang zu wenig.

  • E&W: Sollten Tests, Klassen- und Vergleichsarbeiten nicht auch für jede Lehrkraft ein Hinweis darauf sein, dass ihr Unterricht grundsätzlich, der Distanzunterricht nun im Aktuellen, überhaupt ankommt?

Maaz: Ja. Auch in diese Richtung müssen die Ergebnisse der Leistungserhebungen besser genutzt werden. Darüber hinaus sollten anonymisierte Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler eingeholt und viel strategischer eingesetzt werden. Es geht auch darum, den Lehrkräften zu zeigen, dass es ein Instrument gibt, das ihnen bei der konkreten Unterrichtsgestaltung helfen kann. Damit allein aber werden wir die entstandenen Bildungslücken nicht auffangen. Wir brauchen additive Angebote.

  • E&W: Die wie aussehen könnten?

Maaz: Es müssen flexibel zusätzliche Lernzeiten ermöglicht werden. Die Ressourcen des Ganztags sollten stärker als bisher für Bildung und Förderung genutzt und nicht nur als Betreuungsangebot angesehen werden. Hilfreich wäre auch, wenn Schulen sich in ihrem Umfeld Unterstützung suchen – bei der Kinder- und Jugendarbeit, aber auch bei Lerntherapeuten, der Sozialarbeit und Psychologen.

  • E&W: Sind die nach dem ersten Lockdown durchgeführten Sommerlernangebote eine sinnvolle Variante der zusätzlichen Förderung?

Maaz: Sicher können sie zur Vermittlung von Kompetenzen dienen. Wichtig ist dabei allerdings, dass die Angebote an das anknüpfen, was im vorangegangenen Schuljahr Lehrstoff war und worauf im folgenden Schuljahr aufgebaut wird. Nicht richtig wäre aber, Ferien abzuschaffen oder zu verkürzen, denn es gibt ebenso auch viele Schülerinnen und Schüler, die während des Lockdowns keine oder nur kaum Lernrückstände aufgebaut haben. Wir sollten eher darüber nachdenken, wie wir die Quantität von Lerninhalten verringern können, ohne dabei die Qualität und die Breite zu reduzieren. Schließlich: Sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen und Schüler und deren Eltern brauchen besonders in dieser belastenden Zeit Erholungspausen.

  • E&W: Mancherorts wird über Notenboni und Klassenwiederholungen nachgedacht …

Maaz: Notenboni stellen meines Erachtens keinen gangbaren Weg dar. Die Schulen sollten die Möglichkeit haben und nutzen, immer dann, wenn das Zeugnis nicht relevant ist, den Schülerinnen und Schülern ein schriftliches Feedback zu geben. Im Idealfall enthält diese Rückmeldung Vorschläge, welche Kompetenzen sie wie steigern können. Klassenwiederholungen sollte es nur auf freiwilliger Basis geben. Zudem dürfen sie nicht in die Leistungsbilanz eingehen und etwa dazu führen, dass jemand, der die Möglichkeit in dieser Ausnahmesituation nutzt, später bei einem unfreiwilligen Sitzenbleiben die Schule verlassen muss. Ich bin der Meinung, dass wir das ganze System von Noten, Sitzenbleiben etc. auf den Prüfstand stellen sollten. Muss ein Kind unbedingt spätestens nach dem zweiten Schuljahr flüssig lesen können? Reicht es nicht auch nach der dritten Klasse? Darüber sollten wir einmal nachdenken.

  • E&W: Sie plädieren für eine grundsätzliche Neujustierung des Bildungssystems?

Maaz: Corona hat so deutlich wie noch nie die Schwachstellen unseres Bildungssystems offenbart, die müssen wir jetzt natürlich ernstnehmen.

  • E&W: An welche denken Sie?

Maaz: Das betrifft in besonderem Maße Bildungsbenachteiligungen und wie wir auf die durch Corona sicher noch einmal gestiegene Heterogenität reagieren. Eine weitere offensichtliche Baustelle ist die Digitalisierung und was 2024 nach dem Ende des Digitalpaktes passiert. Außerdem: Wie gelingt uns Inklusion besser? Wie können wir die Lehrerfortbildung reformieren? Und: Was tun wir gegen den Lehrkräftemangel? Notwendig ist eine nationale Strategie, wobei ich mir wünschen würde, dass die Kommunikation über die Erfahrungen und durchaus auch Erfolge der einzelnen Bundesländer intensiviert wird.

  • E&W: Wie könnte das konkret aussehen?

Maaz: Wir benötigen eine ehrliche Analyse des Ist-Zustandes und die Entwicklung klarer Bildungsziele. Dazu müssen wir die Bildungspolitik, die Wissenschaft, nicht zu vergessen die Fachleute aus der Praxis zusammenholen. Wenn wir damit jetzt nicht beginnen, verschlafen wir diese Chance. Sie ist aktuell so groß wie nie, da nun nicht nur wir Bildungsforscher und die Politik aufgeschreckt sind. Jede Bürgerin und jeder Bürger spürt in dieser Zeit, wie wichtig Bildung ist.

  • E&W: So eine Strategie und die Umsetzung der Erkenntnisse erfordern Zeit. Die von der Pandemie betroffenen Schülerinnen und Schüler werden davon nicht mehr profitieren. Was raten Sie kurzfristig?

Maaz: Wir benötigen schnellstens ein Gesamtkonzept mit klaren Regelungen bei gleichzeitig hinreichendem Gestaltungsspielraum für die Schulen. Das sollte angesichts des derzeitigen Pandemiegeschehens übrigens auch die Möglichkeit neuer Phasen von Wechsel- oder Distanzunterricht einkalkulieren. Eine Expertenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung hat viele weitere Punkte benannt, beispielsweise inhaltliche Schwerpunktsetzungen, die trotz reduzierter Lernzeiten in den nächsten beiden Schulhalbjahren realisiert werden können. Weitere Punkte dieser Empfehlungen waren verbindliche Förderangebote, eine Stärkung des Bildungsauftrags der Kindertagesstätten sowie der Aufbau von Theorie-Praxis-Verbünden zwischen Schule und Wissenschaft. Eines aber brauchen wir sicher nicht: den reinen digitalen Unterricht. Bildung gelingt nach wie vor am stärksten durch persönliche Bindung.

Die Richtschnur für die Maßnahmen in der Schule sollen nach Ansicht der GEW die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts sein. Dafür schlägt die GEW ein Fünf-Punkte-Programm vor:

5-Punkte-Programm zum Gesundheitsschutz an Schulen
Ab der 5. Klasse muss das gesellschaftliche Abstandsgebot von 1,5 Metern gelten. Dafür müssen Klassen geteilt und zusätzliche Räume beispielsweise in Jugendherbergen gemietet werden.
Um die Schulräume regelmäßig zu lüften, gilt das Lüftungskonzept des Umweltbundesamtes. Können die Vorgaben nicht umgesetzt werden, müssen sofort entsprechende Filteranlagen eingebaut werden.
Die Anschaffung digitaler Endgeräte für Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler muss endlich beschleunigt werden. Flächendeckend müssen eine datenschutzkonforme digitale Infrastruktur geschaffen und IT-Systemadministratoren eingestellt werden. Zudem müssen die Länder Sofortmaßnahmen zur digitalen Fortbildung der Lehrkräfte anbieten.
Für die Arbeitsplätze in den Schulen müssen Gefährdungsanalysen erstellt werden, um Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler besser zu schützen.
Transparenz schaffen: Kultusministerien und Kultusministerkonferenz müssen zügig ihre Planungen umsetzen, wöchentlich Statistiken auf Bundes-, Landes- und Schulebene über die Zahl der infizierten sowie der in Quarantäne geschickten Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler zu veröffentlichen. „Wir brauchen eine realistische Datenbasis, um vor Ort über konkrete Maßnahme zu entscheiden“, sagte GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. 

Übersicht: Alles, was sich an Bildungseinrichtungen mit Blick auf den Gesundheitsschutz in Corona-Zeiten ändern muss.

Prof. Kai Maaz (Foto: fotorismus für DIPF)