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Pro und Kontra: Richtiger Lernort in einer schwierigen Entwicklungsphase

Pro: Außerhalb der Schule lernen

Vor drei Jahren habe ich vorgeschlagen, das „schulische“ Lernen der 13- bis 15-Jährigen zugunsten anderer, diesem Alter angemesseneren Formen des Lernens zu unterbrechen.

In der Pubertät lernt man nur widerwillig und darum schlecht an den Lerngelegenheiten, die der Klassenraum bietet: Arbeitsbögen und Bücher, Lehrervortrag und Hausaufgaben, paper and pencil. Die dafür notwendigen Ordnungen – „Reden nur, wenn man dran ist, und zu allen“, Drosselung der körperlichen Bewegungsfreiheit, Vorgehen nach dem Lehrplan in einheitlichem Tempo und nach einheitlicher Methode – widersprechen den Bedürfnissen dieser Entwicklungsphase.

Selbsterprobung und Gemeinschaft, Abenteuer und Tat, Widerstand und Ausbruch sind jetzt die Leistungs-Triebkräfte. Auch mit gelegentlichem Projektunterricht, Exkursionen und Nachmittagsangeboten durch Sozialarbeiter bleibt unsere Schule eine Unterrichtsvollzugsanstalt, bleibt sogar die Ganztagsschule eine einheitlich organisierte Lebensform vom 7. bis zum 17. oder 19. Lebensjahr.

Dass wir – allen Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und Pädagogik zum Trotz – so verfahren, liegt daran, dass wir es so gewohnt sind: die Eltern, die Lehrer, die Schulverwaltungen, die Gesellschaft. Alle müssen an dieser Stelle etwas Neues lernen. Das setzt Bereitschaft, geeignete Bedingungen und Zeit für die Erprobung voraus.

Die hier geforderte Erneuerung kann nicht vom gesamten Schulwesen auf einmal verlangt und von den Behörden entworfen und oktroyiert werden. Darum habe ich vorgeschlagen, nach dem Vorbild der Empfehlungen des einstigen Deutschen Bildungsrates* einen Vorversuch in Auftrag zu geben, in dem einige Schulen zehn Jahre lang mögliche Antworten suchen, durchspielen und prüfen – von kleinen Schritten, zum Beispiel einem zweimonatigen Sommerlager, bis hin zu einem zweijährigen Lern- und Lebensort außerhalb von Schule und Elternhaus (denn gewiss ist die Pubertät nicht nur ein Schul-, sondern auch ein Fami­lien- und Lebensproblem).

Der Auftrag sollte an Schulen vergeben werden, die sich darum im Rahmen einer bundesweiten Ausschreibung bewerben. Es sollten alle vier Schularten – Haupt-, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule – je durch mindestens zwei Schulen vertreten sein. Es wären insgesamt also in jedem Jahr 16 Klassen in den Versuch involviert, je zwei in jeder Schule.

Bildungsökonomen haben die Mehrkosten für diese anspruchsvolle Endvariante auf 20.000 Euro pro Klasse und Jahr berechnet, also im Ganzen auf maximal 320.000 Euro. Das sind in der Tat peanuts, bedenkt man, dass ein einziger Sponsor wie die Robert-Bosch-Stiftung in jedem der sechs Programmbereiche zwischen fünf und zehn Millionen im Jahr ausgibt.

Vor drei Jahren habe ich zwei Dutzend „Lerngelegenheiten“ für die letzte Aufbaustufe des entschulten Lernens genannt: Schüler drehen beispielsweise einen abendfüllenden, „professionellen“ Film; sie bauen ein Auto, setzen es aus Teilen alter Autos zusammen, „bis es fährt“; verwandeln ein Stück Land in eine ökologische Gärtnerei oder betreiben eine Gaststätte für Schüler und Studenten; renovieren ihr Schulgebäude selbst oder betreiben eine Pension für Haustiere.

Wer nun einwirft, das werde ja alles „Pfusch“, hat Recht, sollte jedoch hinzufügen: „zunächst“. An nichts lernt man so viel wie an den unerbittlichen Folgen der eigenen Stümperei. Zugleich sieht man, dass unsere herkömmlich ausgebildeten Lehrer in der Regel nicht in der Lage sind, ein solches Lernen zu initiieren.

Ich kann nicht glauben, dass Deutschlands Bildungswesen zu solch einem Versuch nicht fähig sein sollte! Wird er doch geradezu durch die beklagte Schulverdrossenheit der Mittelstufenschüler hervorgerufen: durch den Hilferuf der Rütlischule, durch den von Bildungsforscher Jürgen Baumert, ** ermittelten erstaunlichen Leistungszuwachs im Jacobs-Sommer-Camp*** oder durch den von Manfred Prenzel,**** berichteten beschämenden Leistungszuwachs „null“ im Jahrgang 9 mancher Schulen. Und durch uralte Lehrererfahrung.

 

Kontra: Nicht von Schule abkoppeln

Erziehung und Bildung gehören zum Auftrag der demokratisch legitimierten öffentlichen Schule. Die Schule baut dabei auf die Erziehungsarbeit der Familie auf. Sie vermittelt den Schülern Werte, die sie aus den kleineren Gemeinschaften Familie und Freundeskreis weiterentwickelt. Werte wie Gerechtigkeit und Solidarität, die in unserer Verfassung begründet sind. Sie sollen Kinder und Jugendliche für ein Leben in Staat und Gesellschaft stark machen und auf das Berufsleben vorbereiten.

Schule bietet zudem ein Forum, in dem Heranwachsende verschiedene Handlungsmodelle und Lebensentwürfe vergleichen können und erfahren, wie diese Differenzen in ein Ganzes eingebunden werden. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lebensvorstellungen im schulischen Alltag fördern die Fähigkeit des Schülers, klar zu unterscheiden und auf dieser Grundlage eine eigene Persönlichkeit weiter auszubilden.

Schule ist auch der Ort, an dem junge Leute mit Menschen konfrontiert werden, die sie sich nicht frei aussuchen und über die sie aber Toleranz und Offenheit gegenüber dem Anderen lernen können.

Diese Auseinandersetzung geschieht nicht nur im Unterricht. Außerschulische Aktivitäten, aber an den Unterricht angebunden, können sich auf diesen positiv auswirken.

Ehrenamtliches Engagement gehört zu den tragenden Säulen unserer Bürgergesellschaft. Sich ehrenamtlich zu engagieren und dabei Erfahrungen in der Verantwortung für die Gemeinschaft zu sammeln, dafür ergeben sich im schulischen Umfeld viele Möglichkeiten. Erste Schritte zum Mittun sind in der Sekundarstufe I besonders sinnvoll.

Zusammen mit dem Bayerischen Jugendring hat das Kultusministerium z. B. ein Zertifikat entwickelt, mit dem ehrenamtliches Engagement von Schülern dokumentiert wird. Schüler können es bei Bewerbungen um Ausbildungsplätze oder Stipendien den Unterlagen beifügen.

Die bayerische Staatsregierung fördert das freiwillige Engagement und die Vermittlung von Werten an Schulen. Mit ihrer Initiative „Werte machen stark“ wurden in den vergangenen Jahren viele Beispiele ehrenamtlichen Engagements junger Menschen inner- und außerhalb des Unterrichts gesammelt, die beide Lernorte verbinden: z. B. das Wahlfach Sozialkompetenz mit einer Integrativen Schülerfirma oder mit Schülermentoren. Solche Modelle sind Schule und Schülern nicht einfach übergestülpt worden. Sie sind vielmehr in den Bildungseinrichtungen entstanden und der Initiative von Kindern und Jugendlichen zu verdanken. Und sie werden von Schulbehörden darin unterstützt.

Sobald man aber Erziehung und Unterricht ganz von Schule abkoppelt, entfällt auch der sozialintegrative Rahmen von Schule. Kritiker unseres Schulwesens würden diesen Prozess gegebenenfalls als „Befreiung von Zwängen“ interpretieren. Gesellschaftlich gesehen aber wirkt die Vernetzung von Schule und außerschulischem Engagement als wichtiges Korrektiv für egoistische und undemokratische Haltungen. Gerade bei Gesellschaften mit einem hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund besteht ein großer Bedarf an Integration.

Daher kann es – will man Kinder und Jugendliche zu verantwortlichen Mitgliedern der Gesellschaft erziehen – nicht um eine Abkoppelung des sozialen Lernens von der Schule gehen – auch nicht zeitweise. Vielmehr wollen wir den Praxisbezug schulisch vermittelter Inhalte optimieren, den Erziehungsauftrag der Schule aufwerten und die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler innerhalb der Schule mehr fördern, z. B. auch durch zusätzliche Ganztagsangebote.

In der Mittelstufe den Jugendlichen eine Auszeit zu gewähren und ihnen Lernorte außerhalb der Schule zu ermöglichen, ist für uns nicht der richtige Weg. Wir müssen Schule, Familie und Gesellschaft enger verknüpfen – hin zu einer an der Lebenswelt orientierten Bildung.