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Die GEW und die NS-Vergangenheit

Pragmatismus statt Reflexion

Das Forschungsprojekt „Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und die NS-Vergangenheit“ analysiert, wie der Umgang der GEW mit dem Erbe des Nationalsozialismus einzuschätzen ist. E&W veröffentlicht erste Ergebnisse.

Mädchenklasse in einer Volksschule in Berlin-Prenzlauer Berg 1936. Foto: picture alliance/akg-images

Den Umgang der GEW mit der NS-Vergangenheit einzuordnen, ist keine einfache Aufgabe, zumal ihre Mitglieder sich vor 1933 in politisch höchst unterschiedlichen Lehrerorganisationen engagierten. Die Erfahrungen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus haben jedoch die gesamte Gründergeneration der GEW nachhaltig geprägt. Die Studie nimmt die grundlegenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Lebensumstände von Lehrkräften in den Blick, um ihr damaliges Handeln und das daraus hervorgehende „Erbe“ der GEW genauer bestimmen zu können.

Keine einfachen Antworten

Wie verhielt sich die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer im „Dritten Reich“? Identifizierten sie sich mit der NS-Ideologie? Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es nicht. Festgestellt werden kann, dass die Gegebenheiten in der Spätphase der Weimarer Republik eine graduelle Affinität vieler Lehrkräfte zum Nationalsozialismus begünstigten. Hoffnungen auf ein einheitliches Schulsystem, eine Besserstellung des Lehrerstandes und eine Akademisierung der Lehrerbildung, die viele Lehrkräfte nach dem Ersten Weltkrieg mit der jungen Demokratie verbanden, wurden enttäuscht. Der krisenhaften Situation Ende der 1920er-Jahre standen die etablierten Lehrerorganisationen, allen voran der mit Abstand mitgliederstärkste Deutsche Lehrerverein, mehr oder minder hilflos gegenüber.

Auch wenn es diese Umstände nahelegen, ist nicht davon auszugehen, dass Lehrkräfte eine besondere Nähe zum Nationalsozialismus entwickelten. Als „Gradmesser“ für den vermeintlich großen Zuspruch der Lehrerinnen und Lehrer zum Nationalsozialismus verweisen bisherige Studien fast immer auf den NS-Lehrerbund (NSLB), dem wenige Jahre nach der „Machtergreifung“ fast 97 Prozent aller Pädagoginnen und Pädagogen angehörten. Doch was sagt dies über die tatsächliche politische Einstellung der Lehrkräfte aus? Dass die formale „Gleichschaltung“ fast aller Lehrkräfte nicht gleichzusetzen ist mit einer erfolgreichen Ideologisierung im Sinne des Nationalsozialismus, war selbst den Führungskadern im NS-Lehrerbund bewusst. Zwar wurden mit beachtlichem Aufwand „Schulungsmaßnahmen“ und „Lehrerlager“ durchgeführt sowie zahlreiche pädagogische NS-Zeitschriften herausgegeben. Die ideologische Beeinflussung blieb dennoch begrenzt. Statistisch betrachtet besuchte eine einzelne Lehrkraft im „Dritten Reich“ weniger als ein Mal ein mehrtägiges Schulungslager.

Der in der Forschungsliteratur oft betonte Umstand, dass rund 30 Prozent aller Lehrkräfte der NSDAP angehörten, kann ebenfalls nicht pauschal als Ausdruck einer ausgeprägten nationalsozialistischen Überzeugung verstanden werden. Opportunistische Motive dürften häufig ausschlaggebend für den Parteieintritt gewesen sein. So wurden NSDAP-Mitglieder bei der Vergabe offener Lehrerstellen bevorzugt. Vor allem auf dem Land gehörten männliche Lehrkräfte zur traditionellen dörflichen „Funktionselite“, von der die Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer NS-Organisation mehr oder minder erwartet wurde.

Komplexe Lebenswirklichkeit

Nur durch eine Rekonstruktion der Lebenswirklichkeit lassen sich Rückschlüsse erarbeiten, die das Verhältnis der Lehrerschaft zum NS-Regime ansatzweise umreißen können. Betrachtet man die praktische NS-Schulpolitik, so muss diese auf viele enttäuschend gewirkt haben. Die von der NS-Propaganda lautstark angekündigte Akademisierung der Lehrerbildung wurde nach wenigen Jahren stillschweigend zurückgenommen. Im Dienst befindliche Lehrkräfte erlitten durch die Anpassung der Beamtenbesoldung an die Reichsbesoldung Reallohnverluste. Der noch vor Kriegsbeginn akut auftretende Lehrermangel sowie steigende Schülerzahlen je Klasse verschlechterten die allgemeinen Arbeitsbedingungen weiter.

In formaler Hinsicht – durch Fahnenappelle, die Einführung des Hitlergrußes etc. – unterlag die Unterrichtspraxis zwar einschneidenden Veränderungen. In der täglichen Unterrichtsgestaltung blieben jedoch in gewissem Umfang Freiräume erhalten, nicht zuletzt, weil die aus der Weimarer Zeit stammenden Unterrichtsmaterialien im „Dritten Reich“ bis auf wenige Ausnahmen weiterverwendet wurden. Trotz aller Vorschriften und Auflagen hing es von der einzelnen Lehrkraft ab, wie überzeugend und nachhaltig die NS-Ideologie im Unterricht vermittelt wurde. Das Spektrum der Lehrkräfte reichte von überzeugten Nationalsozialisten bis hin zu solchen, die sich durch kleine Gesten im Schulalltag der beabsichtigten „totalen Ideologisierung“ entgegenstellten. Die große Mehrheit verhielt sich opportunistisch und bekannte sich formal zum NS-Regime. Das schloss jedoch auch die Akzeptanz rassistischer Diskriminierung mit ein. So nahmen fast alle Lehrerinnen und Lehrer die Ausgrenzung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus öffentlichen Schulen kritiklos hin, ein Teil wirkte daran sogar aktiv mit.

Krieg und Kriegsfolgen

Mehr als alle Einflussnahmen der Nationalsozialisten dürfte der Krieg selbst den Schulalltag verändert haben. Zahlreiche Lehrer wurden ab 1939 zum Kriegsdienst einberufen. Den daraus resultierenden Lehrermangel versuchte das Regime durch die Wiedereinstellung „alter“ Lehrerinnen und Lehrer zu kompensieren, unter denen sich sogar einige befanden, die 1933 aus politischen Gründen entlassen worden waren. Auch in struktureller Hinsicht veränderte der Krieg die Situation an den Schulen massiv. Die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich durch Mehrarbeit, Versetzungen und außerschulische (Sammlungs-)Einsätze dramatisch. Kriegseinwirkungen, wie die Fremdnutzung und Zerstörung von Schulgebäuden, schränkten den Unterricht weiter ein. Durch Evakuierungsmaßnahmen wie die Kinderlandverschickung und den „totalen Kriegseinsatz“ kam es an vielen Schulen zu Auflösungserscheinungen, je nach Region zum Teil viele Monate vor der „bedingungslosen Kapitulation“ der Wehrmacht am 8. Mai 1945.

Die leidvollen Erfahrungen des Krieges, in dessen Folge das Schulwesen in Deutschland fast vollständig zum Erliegen kam, waren für die Lehrerschaft nachhaltig prägend. Die Rolle der eigenen Zunft während der zwölfjährigen NS-Diktatur wurde dagegen verdrängt. Eine Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit erfolgte lediglich erzwungenermaßen – und zwar im Rahmen der von den Siegermachten initiierten und später auf deutsche Verwaltungsstellen übertragenen Entnazifizierung. In der britischen Zone waren die Bedingungen für eine Wiedergründung von Lehrerorganisationen besonders günstig. Nicht zufällig entstand hier mit dem Allgemeinen Deutschen Lehrer- und Lehrerinnenverein (AdLLV) die erste große Lehrerorganisation, aus der sich später die GEW entwickeln sollte.

„Beschweigen“ und Rehabilitation

Die Arbeit des AdLLV war von Beginn an strikt auf die Zukunft ausgerichtet. Die „dunkle Vergangenheit“ wurde dabei weitgehend tabuisiert und diente lediglich als „negative Kontrastfolie“, um die demokratische Verfasstheit der Lehrerorganisation zu betonen. Die Funktionäre der alten Lehrerverbände und künftigen Gründerväter der GEW arbeiteten nach 1945 offenbar mühelos zusammen, auch wenn sie mit dem NS-Regime ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht hatten. Max Traeger, erster Vorsitzender der GEW, etwa wurde im Nationalsozialismus zwar degradiert, verblieb aber im Schuldienst. Paul Goosmann dagegen, der künftige Bremer GEW-Vorsitzende, wurde wie GEW-Vorstandsmitglied Fritz Thiele, bis 1933 letzter Geschäftsführer des Deutschen Lehrervereins, aus politischen Gründen entlassen, kehrte aber aufgrund des Lehrermangels im Krieg 1940 wieder in den Schuldienst zurück. Der dritte Vorsitzende der GEW, Heinrich Rodenstein, wiederum emigrierte und betrat erst nach dem Krieg wieder deutschen Boden. Wie zahlreiche Korrespondenzen und stenographische Wortprotokolle von Tagungen nahelegen, fand im engen Kreis der ersten GEW-Funktionäre wie auch allgemein innerhalb der Gewerkschaft eine vernehmbare Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit praktisch nicht statt.

Zu dem weit verbreiteten „Beschweigen“ der unmittelbaren Vergangenheit kam ein weiteres, heute wenigstens ebenso zweifelhaft erscheinendes Verhalten hinzu. Am Beispiel des Verbands badischer Lehrer und Lehrerinnen wird deutlich, dass sich Lehrerorganisationen, die sich 1948/49 in der GEW zusammenschlossen, für die Rehabilitation nachweislich belasteter Berufskollegen einsetzten. Nach einer Analyse der vorliegenden Quellen steht fest, dass fast alle betroffenen Lehrkräfte die Entnazifizierung als „weiteren Opfergang“ empfanden, nachdem sie in der Zeit des Nationalsozialismus „anständig“ geblieben seien und die Entbehrungen des Krieges ertragen hätten. Solche Sichtweisen wurden von den Verbänden offenbar ohne Einschränkung geteilt.

Neben einfachen finanziellen Unterstützungsleistungen stellten Lehrerorganisationen auch Entlastungsschreiben und Stellungnahmen an Schulbehörden, die Besatzungsmächte und zentrale Regierungsstellen aus und halfen dadurch mit, dass selbst hochgradig belastete Lehrkräfte letztlich wieder angestellt wurden. Dokumentieren lässt sich dies etwa am Beispiel von Wilhelm Seiler, der bereits 1922 der NSDAP angehörte, bis 1933 Volksschullehrer war und im „Dritten Reich“ als Rektor und schließlich als Kreisleiter der NSDAP in Heidelberg Karriere machte. Der Verband badischer Lehrer und Lehrerinnen unterstützte mehrfach seine Gnadengesuche, die er bis Anfang der 1950er-Jahre an das Befreiungsministerium in Stuttgart richtete. Im November 1952 kehrte Seiler schließlich in den Schuldienst zurück, ab 1961 erhielt er bis zu seinem Lebensende eine umfängliche Pension.

Zwischenbilanz

Die Lehrerschaft im Nationalsozialismus hat der GEW ein komplexes Erbe hinterlassen. Zumindest für die Nachkriegszeit muss festgestellt werden, dass die Gründergeneration der GEW nicht bereit war, das Verhalten ihrer Mitglieder im Nationalsozialismus kritisch zu reflektieren. Wie für die deutsche Gesellschaft allgemein lässt sich auch für die GEW allenfalls ein „pragmatischer Umgang“ mit der NS-Vergangenheit konstatieren, der vor allem dadurch bestimmt war, in der Zeit des Wiederaufbaus ihr problembehaftetes Erbe zu verdrängen, anstatt es anzunehmen oder gar zu verantworten. Ab wann hier ein signifikanter Wandel stattfand, wird sich am Ende der Untersuchung herausstellen.

Seit Herbst 2017 beschäftigen sich die Historiker Jörn-Michael Goll und Detlev Brunner vom Historischen Seminar der Universität Leipzig im Rahmen des Forschungsprojekts „Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und die NS-Vergangenheit“ mit der Frage, wie der Umgang der GEW mit dem Erbe des Nationalsozialismus einzuschätzen ist. Im Sommer kommenden Jahres soll die Studie abgeschlossen werden.