Rechtsruck ist Warnsignal
„Politische Bildung dringend mehr in den Fokus rücken“
Die GEW warnt vor einem Rechtsruck bei der Europawahl und fordert mehr Mittel und Stellen für eine fächerübergeifende Demokratiebildung an den Schulen.
„Bei der Europawahl werden nach allen Prognosen nationalistische, rechtspopulistische und rechtsextremistische Parteien verstärkt Zulauf erhalten. Das ist ein Warnsignal“, sagte die GEW-Vorsitzende Maike Finnern der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“ am Montag.
„Diese Bewegungen sind seit Jahren auf dem Vormarsch. Sie nutzen soziale Schieflagen, Statusängste und Zukunftsunsicherheit aus, um ihre reaktionären Ideologien und autoritären Vorstellungen zu verbreiten. Sie schüren Europaskepsis, demokratie- und menschenfeindliche Ressentiments sowie Gewalt“, so Finnern weiter. Die Europawahl ist in Deutschland am 9. Juni.
„Für den Erhalt der Demokratie und demokratischer Werte braucht es (...) Menschen, die sich für diese Ziele stark machen.“ (Maike Finnern)
„Seit 75 Jahren bilden dagegen die allgemeinen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Basis für ein friedliches Zusammenleben in Europa. Das ist jedoch kein Selbstläufer: Für den Erhalt der Demokratie und demokratischer Werte braucht es das Engagement der Zivilgesellschaft, braucht es Menschen, die sich für diese Ziele stark machen“, sagte die GEW-Vorsitzende.
Lehrkräfte haben Vorbildfunktion
Lehrerinnen und Lehrer hätten bei der Vermittlung demokratischer Grundrechte und -werte eine Vorbildfunktion und einen klaren Bildungs- und Erziehungsauftrag. „Sie brauchen dafür bessere Bedingungen. Gerade jetzt wird deutlich: Die politische Bildung muss dringend mehr in den Fokus rücken. Das gilt von der Kita über die Schulen und Hochschulen bis in die Weiterbildung“, erklärte Finnern.
„In der Schule muss der Politik-, Sozialkunde- und Geschichtsunterricht gestärkt werden. Hier wird zu schnell gekürzt (...).“ (Maike Finnern)
„In der Schule muss der Politik-, Sozialkunde- und Geschichtsunterricht gestärkt werden. Hier wird zu schnell gekürzt und zu oft von fachfremden Lehrkräften unterrichtet. Zudem muss die Demokratiebildung viel stärker fächerübergreifend und -verbindend gedacht und unterrichtet werden. Projekte zum Thema sind gut. Entscheidend ist: Das Thema muss besser in den Lehrplänen verankert werden. Und: Es braucht dafür ausreichend viele Lehrkräfte.“
Demokratiebildung ist zentraler Bestandteil des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule. Die Landesschulgesetze beschreiben die Ziele. Lehrkräfte sollen demokratische Werte wie Würde und Gleichheit aller Menschen, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität vermitteln.
Wenn es in der Schule um politische Bildung geht, müssen sich Lehrkräfte nicht neutral verhalten. Es ist wichtig, verschiedene Blickwinkel zu beleuchten. Lehrkräfte sollen auf Basis des Grundgesetzes eine klare Haltung gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Gewaltverherrlichung und menschenverachtende Aussagen zeigen.
Oft fällt das Stichwort ’Beutelsbacher Konsens’. Er ist ein in den 1970er-Jahren formulierter Minimalkonsens für den Politikunterricht in Deutschland. Er darf nicht mit dem parteipolitischen Neutralitätsgebot des Staates verwechselt werden. Der Konsens formuliert drei zentrale didaktische Prinzipien politischer Bildung: das Überwältigungs- bzw. Indoktrinationsverbot, das Kontroversitätsgebot sowie das Ziel, dass Schüler*innen zur politischen Teilhabe befähigt werden sollen. Lehrkräfte dürfen ihre eigene politische Meinung ausdrücken, diese aber nicht als allgemeingültig darstellen. Kontroverse Themen müssen multiperspektivisch behandelt werden.
1. Überwältigungsverbot
Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.
Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende andere Ansichten kommen ja zum Zuge.
3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren,
sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich erhobene Vorwurf einer „Rückkehr zur Formalität“, um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.