Wenn Andreas Petrik, Professor an der Martin-Luther-Universität in Halle, Didaktik der Sozialkunde lehrt, kann er nicht nur mit jungen Demokraten über politische Bildung sprechen – er muss auch Rechtsextremisten betreuen. Unter den Studierenden seines Fachbereichs wurde ein halbes Dutzend Anhänger der nationalistischen Identitären Bewegung ausgemacht. „Wir müssen mit ihnen umgehen, auch wenn sie uns nicht sympathisch sind“, sagt Petrik. Und wenn sie eine wissenschaftlich korrekte Arbeit schreiben und schlüssig argumentieren, müsse man ihnen sogar gute Noten geben – ob man wolle oder nicht.
Das Dilemma mit Rechtsextremisten im Lehralltag gehört auch zu Petriks Forschungsfeld. Auf dem Bundeskongress Mitte März in der größten Stadt Sachsens stellte er einige Erfahrungen und Erkenntnisse mit neonazistischen Schülern im Politikunterricht vor. Der vollbesetzte Workshop, den Petrik mit der auf mehrere Jahrzehnte Didaktikforschung zurückblickenden Professorin Sibylle Reinhardt hielt, traf einen Nerv: Jeder zweite Teilnehmende hatte schon mit rechtsradikalen Sprüchen im Klassenzimmer zu tun.
In Zeiten erstarkender Populisten, gefühlter Wahrheiten und einer Radikalisierung der Gesellschaft erörterte der Kongress neue Wege der Politikvermittlung. Motto: „Was uns bewegt. Emotionen in Politik und Gesellschaft.“ Ein Thema, das tatsächlich bewegte: 1.100 Gäste waren in die Revolutionsstadt Leipzig gekommen – anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls Austragungsort der lebhaften Debatten. Der Tenor war eindeutig: In politischer Bildung geht es nicht nur um rationale Argumente – auch Gefühle sind mit aktiver Politik und politischem Denken untrennbar verbunden. „Emotionen gehörten zu den Montagsdemos und haben uns nie wieder verlassen“, betonte Thomas Krüger, einst Bürgerrechtler in der DDR und seit fast 20 Jahren Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Er warnte zugleich davor, dass Gefühle in der Politik oft auch instrumentalisiert würden.
Kaum Politikunterricht
Doch ausgerechnet in Schulen wird politische Bildung oft stiefmütterlich behandelt: Gerade mal 0,5 bis 4,4 Prozent der Stundentafeln seien für Politikunterricht vorgesehen, kritisierte Tonio Oeftering, Bundesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung und neben der bpb Veranstalter der Tagung. „So wird man den aktuellen Anforderungen nicht gerecht.“
Bestes Beispiel für diese Anforderungen liefert die AfD, die vorgibt, mit ihrem Onlinepranger gegen angebliche Neutralitätsverstöße von Lehrkräften vorzugehen. „Aber was ist die Folge, wenn man Angst vor Strafanzeigen verbreitet?“, fragte rhetorisch die 77-jährige Professorin Reinhardt: „Verstummen, vermeiden, blockieren – aber keine mündigen Schülerinnen und Schüler.“ Dabei gelte das Neutralitätsgebot nur für die Institution Schule, nicht aber für den Unterricht. Dort gelte vielmehr ein Kontroverse-Gebot. Es sei Aufgabe von Lehrkräften, Schülerinnen und Schüler in die Lage zu versetzen, politische Meinungen herauszubilden. „Neutralität im politischen Unterricht ist eine Illusion“, stellte Reinhardt klar. Jede Lehrkraft habe eine politische Identität und könne auch ihre Grundrechte wahrnehmen. Alles andere wäre unehrlich. „Die vielfältigen Interaktionen im Unterricht lassen sich nicht per Dienstordnung regeln.“
Wie aber umgehen mit extremistischen Äußerungen von Lernenden? Politik-Didaktiker Petrik hat in ostdeutschen Schulklassen vier Typen von rechtspopulistischen Sprücheklopfern ausgemacht: tabubrechende Provokateure und Mitläufer, Ausländerskeptiker, frustrierte Wohlstandschauvinisten – und gefestigte Nationalisten. Während die letzte Gruppe immun gegen Kritik und Sachinformationen sei, so Petrik, seien die drei anderen noch für Fakten und Argumente in sokratischen Lehrstrategien zugänglich: durch eigenes Entdecken und Urteilen, durch neutrales Nachfragen und die Ermutigung der zurückhaltenden Schüler – oder durch Aufzeigen argumentativer Widersprüche.