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Pädagoge fordert Ende des "Bulimielernens"

Der Pädagogikprofessor Fritz Reheis plädiert für eine Entschleunigung von Schulen und Hochschulen. Aktuell praktizierten Schüler und Studierende ein "Bulimielernen", kritisiert er: "Hinunterschlingen, Herauskotzen und Vergessen."

Wenn Schüler und Studenten von "Bulimielernen" sprechen, charakterisieren sie ihre Bildungspraxis als Fastfood- und Wegwerfbildung. Diese Praxis zielt zunächst darauf, Bildung mit hohem Druck in Köpfe, bisweilen auch Herzen und Hände zu pressen. Turbobildung. Um Zeit zu sparen, sortieren Schulen und Hochschulen die Lernenden in Gruppen, von denen gleiches Lerntempo erwartet wird. Sie definieren durch einen detaillierten Plan, was wann und oft auch wie zu lernen ist. Sie organisieren den Lernbetrieb als Wettrennen um knapp gehaltene gute Noten und Credit Points. Sie sortieren die Welt in Fächer, die Fachinhalte in mundgerechte Häppchen, die didaktisch-methodisch von allem gereinigt werden, was bremsen könnte.

Sie flößen schließlich den Lernenden die dergestalt vorgekochte und vorverdaute Nahrung – oft noch ansprechend zurechtgemacht (Folien) und mit didaktischen Lockstoffen angereichert (Filmchen) – im 45- oder 90-Minuten-Takt so ein, dass alles möglichst schnell geschluckt wird. Wenig Kauarbeit, unverzügliche Sättigung, kaum Ballaststoffe. Diese Art von Bildung bleibt, wie wir wissen, nur wenig haften. Nach der Einlösung des Tauschwerts – der Noten, Leistungspunkte, Zeugnisse – wird sie schnell wieder entsorgt. Hinunterschlingen, Herauskotzen und Vergessen bilden also eine Einheit.

Dem Zeitdruck fällt Vieles zum Opfer: die sinnlich-spielerische Annäherung an Gegenstände, das selbstständige Erschließen von Themen, das selbst organisierte Zusammenarbeiten, das versuchsweise Wechseln der Perspektive, das Überprüfen der Resultate, eigene Fragen. Der Wettlauf um die Vermeidung von Fehlern zwingt Lernende obendrein auf einen Dauerprüfstand, beginnend mit Grundschulreifetests und noch lange nicht endend mit dem Bachelorabschluss. Dass auch der prekär beschäftigte wissenschaftliche Nachwuchs sich im universitären "Hamsterrad" abstrampelt, kann nicht verwundern. Fastfood ist selten gesund.

Die entschleunigte (Hoch)Schule

Die Narben, die Turbo(hoch)schulen bei Lernenden und Lehrenden hinterlassen, sind offensichtlich. Gravierender noch sind die Konsequenzen des Turbobetriebs für die Ergebnisse des Bildungsprozesses. Er produziert halbwegs willige Arbeitskräfte, gut lenkbare Konsumenten und meist gesetzestreue Untertanen. Wie aber steht es um die viel beschworene Mündigkeit? Um den eigensinnigen, verantwortungsfreudigen, widerständigen Wirtschafts- und Staatsbürger? Der Umgang mit Zeit bei der Ernährung des Geistes ist symptomatisch für unser gesamtes Turboleben. Das Fastfood- und Wegwerfprinzip zielt auf die beschleunigte Steigerung von Produktion, Konsum und Abfall.

Was wäre die Alternative? Beim Konsumieren, Arbeiten und eben auch beim Lernen achtsamer mit Zeit umzugehen. Sich also nicht an den Programmzeiten der Ökonomie, sondern an den Eigenzeiten des Lebens zu orientieren. Erinnern wir uns an den Ursprung des Wortes Schule: an griechisch scholé, die Zeit, in der die Geschäfte ruhen, die Mußestunden also. Je mehr heute der Sachzwang der Beschleunigung unser Leben beherrscht, desto wichtiger werden Orte, an denen das Innehalten gelernt, geübt und genossen wird. Eine entschleunigte (Hoch)Schule ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Selbstkultivierung des Menschen (Immanuel Kant).

An solchen Orten können sich Generationen und Fachperspektiven begegnen, kann in aller Ruhe über den gemeinsamen Weg nachgedacht werden kann. An solchen Orten konvergieren individuelle und kollektive Prägungen. Persönlichkeitsbildung und politische Willensbildung stellen Weichen in die Zukunft. Beide sind existenziell aufeinander angewiesen. Genau diese Möglichkeit zur Autonomie ist es, die den Menschen aus der Welt der Tiere heraushebt. Wir sollten sie nutzen und Widerstand leisten, wo diese bedroht ist.

Prof. Fritz Reheis, Lehrbeauftragter am Lehrstuhl Allgemeine Pädagogik der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Foto: Wolf-Dietrich Weissbach.