Abschlussprüfung der 15-Jährigen in den polnischen Schulen. Die Noten entscheiden über die begrenzten Plätze in den besten Lyzeen und Berufsschulen. Jedes Jahr wieder bringt die Prüfung Monate zwischen Hoffen, Lernstress und Bangen. In diesem Jahr bangten die Schüler – und mit ihnen Eltern und eine ganze Gesellschaft – allerdings, ob die Prüfungen überhaupt stattfinden. Am 8. April hatten die polnischen Lehrkräfte einen landesweiten Streik ausgerufen. 600.000 Lehrerinnen und Lehrer streikten, in fast 70 Prozent aller Schulen in ganz Polen fiel der Unterricht aus.
Einer der Streikenden war Dariusz Martynowicz, ein Lehrer aus Kraków. Kürzlich hat der 35-jährige Pädagoge die höchste Gehaltsstufe erreicht. Das bedeutet in seinem Fall: 700 Euro netto und keinerlei Aufstiegsmöglichkeiten mehr. „Jede Gehaltsabrechnung ist wie ein Schlag ins Gesicht“, erklärte er in einem Interview mit dem Fernsehsender TVN. Die zentrale Forderung der Lehrkräfte war deshalb eine Gehaltserhöhung um 1.000 złoty (= 233 Euro), die Regierung bot lediglich die Hälfte an. Dass es hier tatsächlich Verhandlungsbedarf gibt, zeigt der Vergleich mit Westeuropa: Anders als etwa in Deutschland liegt das durchschnittliche Bruttogehalt für Lehrkräfte in Polen mit umgerechnet 750 Euro weit unter dem nationalen Durchschnittseinkommen von 1.100 Euro.
„Was ist bloß los in einem Land, in dem man im Supermarkt und im McDonald’s besser verdient als in der Schule?“ (Dariusz Martynowicz)
Der Ursprung für das Einkommensgefälle zwischen den Professionen liegt am historisch bedingten niedrigen Prestige intellektueller Berufe im sozialistischen Polen. Inzwischen haben sich die Rahmenbedingungen zwar geändert, doch während die Einkommen beispielsweise von Schweißern rasant stiegen, stagnieren die der Lehrkräfte nach wie vor. In den vergangenen zehn Jahren sind deren Reallöhne sogar gesunken, große Sprünge in den Tarifverhandlungen gab es seit dem Beitritt zur Europäischen Union (EU) nicht. Martynowicz formulierte es so: „Was ist bloß los in einem Land, in dem man im Supermarkt und im McDonald’s besser verdient als in der Schule?“
Wie in vielen osteuropäischen Staaten erreicht der wachsende Wohlstand breite Gesellschaftsgruppen im Land nicht. Zu diesen gehört der öffentliche Dienst, der nicht von der europäischen Arbeitsteilung von Unternehmen wie VW und BMW oder von ausländischen Investitionen profitiert. Zwar haben Umstrukturierungen und Arbeitsplatzabbau in den 1990er-Jahren die Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor nicht gefährdet. Die postsozialistischen Regierungen haben aber mit der Austeritätspolitik, die die EU verordnet hat, die Einkommen dieser Branche auf Jahrzehnte gedeckelt und die Arbeitsqualität verkommen lassen. Folge: Die Zahl der Streiks im öffentlichen Sektor ist gestiegen.
Laut Martynowicz geht es bei diesen Protesten nicht nur um höhere Einkommen. Es mangelt in Polen vor allem an politischer und gesellschaftlicher Anerkennung des Lehrerberufs wie aller anderen Tätigkeiten im öffentlichen Sektor. Populistische Regierungspolitiker diffamieren Angestellte des öffentlichen Dienstes immer wieder als Faulpelze. In unzähligen Internetforen wollte man die streikenden Pädagoginnen und Pädagogen am liebsten an den Supermarktkassen arbeiten sehen, wo sie „das echte Leben kennenlernen“ könnten. Diese „authentische“ Erfahrung machen übrigens bereits viele Lehrerinnen und Lehrer, die nach dem Unterricht einen Nebenjob ausüben müssen.
„Wir legen die Waffen nicht nieder. Wir beenden nur die erste Protestrunde.“ (Slawomir Broniarz)
Ein wesentlicher Kampfplatz im Streik der Lehrkräfte waren die Medien. Während die Regierungsmedien keine Möglichkeit ungenutzt ließen, die angebliche Unbescheidenheit der Forderungen der Pädagoginnen und Pädagogen anzuprangern, standen gewerkschaftskritische liberale Zeitungen wie die Gazeta Wyborcza hinter dem Streik. Hier wird eine Besonderheit von Streiks im öffentlichen Dienst Polens sichtbar: ihre Anfälligkeit für Politisierung, zu dem auch der sogenannte konfliktreiche Pluralismus der miteinander konkurrierenden Gewerkschaften beiträgt. An der Basis wird das mit Unverständnis zur Kenntnis genommen. So führte ein Scheinabkommen, das die regierungsnahe Solidarność mit der Regierung noch vor Streikbeginn ausgehandelt hatte, dazu, dass viele verärgerte Lehrerinnen und Lehrer aus der Gewerkschaft austraten.
Der Streik der polnischen Pädagogen war aber noch in anderer Hinsicht politisch. Die Streikenden kritisierten die Bildungsreform von 2017, mit der die PiS-Regierung die Gymnasien abgeschafft hat. Sie fühlen sich von der polemisierenden Bildungsministerin Anna Zalewska, die mit Zahlenspielen die Gehälter der Lehrkräfte schönrechnet, schlecht vertreten. Sie haben auch etwas gegen die Klientelpolitik der PiS-Regierung, deren Zielgruppe die Lehrerschaft genauso wenig ist wie einst Angestellte, die in der kommunistischen Partei waren.
Die Propaganda der PiS-Partei zeigte Wirkung. Leider ist es den Lehrkräften deshalb nicht gelungen, die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen. Schülerinnen und Schüler solidarisierten sich nur mit wenigen Aktionen mit den Pädagogen. Der Streik dauerte drei Wochen – bis Ende April. Beendet ist er nur vorerst, wie der Vorsitzende der Gewerkschaft der polnischen Lehrerschaft ZNP, Slawomir Broniarz, wissen ließ: „Wir legen die Waffen nicht nieder. Wir beenden nur die erste Protestrunde.“ Mit Beginn des neuen Schuljahres im September werde man die Streiks wieder aufnehmen, so Broniarz weiter. Die Lohnerhöhung sei nicht vom Tisch. Auch setzten sich die Lehrerinnen und Lehrer weiter für eine allgemeine Reform des polnischen Schulwesens ein.
Auf Bewegung im Sommer ist zu hoffen. Denn wenn Lehrkräfte künftig der besseren Löhne wegen zu McDonald’s wechseln, untergräbt dies das Bildungswesen und die öffentliche Verwaltung Polens weiter.