Anfang dieses Jahres schlugen die beiden Bildungsforscher Dirk Zorn und Klaus Klemm Alarm. In den Grundschulen müssten bis 2025 aufgrund steigender Schülerzahlen und des geplanten Ausbaus der Ganztagsschulen rund 105.000 neue Lehrkräfte eingestellt werden, rechneten die beiden in einer von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegebenen Studie vor. In diesem Zeitraum würden aber lediglich 70.000 Absolventen ihr Lehramtsstudium abschließen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat mittlerweile die Bedarfslücke zugestanden, nachdem sie jahrelang sinkende Schülerzahlen und damit einen zurückgehenden Lehrerbedarf erwartete.
Doch schon heute macht sich die Personallücke bemerkbar, allerdings nicht überall gleichermaßen. Länder wie Bayern oder Baden-Württemberg oder der Stadtstaat Hamburg bilden seit Jahren über Bedarf aus und versorgen sich zudem mit Lehrkräften aus anderen Bundesländern. Andere wie Berlin, Sachsen, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen (NRW) müssen dagegen immer häufiger auf sogenannte Quer- und Seiteneinsteiger in den Lehrerberuf zurückgreifen.
Unter Seiten- und Quereinsteiger werden Personen verstanden, die kein Lehramt studiert haben, aber über eine berufliche bzw. akademische Qualifikation verfügen, die als Zugang zum Lehrerberuf anerkannt werden kann. Bei Seiteneinsteigern handelt es sich um Personen, die ohne grundständige Lehrerinnenausbildung und Vorbereitungsdienst (Referendariat) in den Schuldienst eingestellt werden. Ein abgeschlossenes Hochschulstudium ist nicht zwingend vorgeschrieben; Einsatzgebiete sind oft berufliche Schulen. Sie müssen eine einjährige pädagogische Einführung absolvieren und erwerben damit kein Lehramt, so dass sie nicht verbeamtet werden können. In Berlin werden sie beispielsweise als Lehrkräfte ohne volle Lehramtsbefähigung (LovL) geführt. Außerdem werden sie als Tarifbeschäftigte in der Regel niedriger eingruppiert als reguläre Lehrkräfte. So werden sie in NRW in den Grundschulen eine Entgeltgruppe schlechter bezahlt (EG10 statt EG11).
Immer mehr Quer- und Seiteneinsteiger bei Neueinstellungen
Deutlich häufiger kommt die Form des Quereinstiegs vor. Die Zulassungsvoraussetzungen schreiben in allen Ländern ein Hochschulstudium mit Magister- oder Diplomabschluss in einem Fach vor, das als Mangelfach gilt; daneben muss nur ein zweites Fach studiert worden sein, das als zweites Unterrichtsfach anerkannt werden kann. Es gibt jedoch Unterschiede zwischen den Bundesländern. So knüpft NRW den Quereinstieg an den Nachweis einer mindestens zweijährigen Berufstätigkeit oder einer mindestens zweijährigen Betreuung eines minderjährigen Kindes nach Abschluss des Hochschulstudiums. Quereinsteiger treten direkt in das Referendariat ein, das je nach Bundesland 18 bis 24 Monate dauert. Abgeschlossen wird der Vorbereitungsdienst mit dem zweiten Staatsexamen. Quereinsteiger erhalten nach Übernahme in den Schuldienst eine unbefristete Anstellung und sind laufbahntechnisch Lehramtsabsolventen gleichgestellt.
Sonderfälle sind Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Beide Länder kennen nur den Seiteneinstieg in den Lehrerberuf. In Mecklenburg-Vorpommern müssen Seiteneinsteiger in der unterrichtsfreien Zeit an Fortbildungen teilnehmen, Sachsen schreibt lediglich eine dreimonatige Einstiegsfortbildung vor, anschließend müssen sich die Lehrkräfte fehlende pädagogische Kompetenzen berufsbegleitend aneignen.
Einer KMK-Statistik zufolge hat der Anteil von Quer- und Seiteneinsteigern bei den Neueinstellungen zugenommen. 2015 warben die Schulen bundesweit rund 1.500 dieser Neulehrer an, 2016 waren es bereits doppelt so viele und 2017 stieg die Zahl auf 4.250 Personen. Damit war mehr als jede zehnte der im vergangenen Jahr 34.281 neu eingestellten Lehrkräfte ein Quer- oder Seiteneinsteiger. An der Spitze steht die Bundeshauptstadt, gefolgt von Sachsen, NRW und Niedersachsen. In Berlin waren im Schuljahr 2016/2017 von den 3.047 Neulehrern 1.266 Quer- und Seiteneinsteiger. Nach Auskunft der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie waren zum Stichtag 1. November 2017 damit bereits 4,2 Prozent aller Lehrkräfte in Berlin Quer- bzw. Seiteneinsteiger, am höchsten lag ihr Anteil in den Grundschulen mit 6,4 Prozent. Gegen Ende des Schuljahres hat sich der Lehrermangel noch einmal verschärft, so dass zu Beginn des neuen Schuljahres von 2.700 neu eingestellten Lehrerinnen und Lehrern nur noch 1.000 vollausgebildete Lehrkräfte sind.
Quer- und Seiteneinstieg wird Dauerzustand
Auf Platz zwei der Statistik liegt Sachsen. Hier erfolgte 2017 fast jede zweite Stellenneubesetzung in den Schulen durch Personen ohne Lehramtsbefähigung (1.089 von 2.329). Auch Niedersachsen setzt immer mehr auf Quer- bzw. Seiteneinsteiger. Betrug im Schuljahr 2013/14 der Anteil dieser Lehrkräfte bei den Neueinstellungen dort nicht einmal ein Prozent, so stieg er in den Folgejahren deutlich an. Nach Auskunft des Kultusministeriums in Hannover waren im Schuljahr 2017/18 von 2.773 neu eingestellten Lehrkräften insgesamt 369 Quer- und Seiteneinsteiger, das entspricht einem Anteil von rund 13 Prozent.
Ähnlich sieht es derzeit in NRW aus. Im bevölkerungsreichsten Bundesland war im vergangenen Schuljahr mehr als jeder zehnte der neu eingestellten 7.333 Lehrkräfte ohne Lehramtsausbildung (10,8 Prozent). Das Land unterscheidet jedoch begrifflich nicht zwischen Quer- und Seiteneinsteigern. Zum einen gibt es in dem Land die klassischen Quereinsteiger. Daneben kennt NRW auch den Seiteneinstieg, und diesen gibt es vor allem im Grundschulbereich. Die Ursache hierfür ist das besondere Qualifikationsprofil für Grundschulpädagogen des Landes. In NRW muss man für das Grundschullehramt drei Fächer studiert haben, diese Voraussetzung bringen die wenigsten Hochschulabsolventen mit.
Alle genannten Bundesländer teilten auf Nachfrage mit, dass sie ihren Lehrerbedarf weiterhin zum Teil über Quer- und Seiteneinsteiger in den Beruf abdecken werden müssen. Der Quer- und Seiteneinstieg wird also von einer kurzfristigen Maßnahme zu einem Dauerzustand in den deutschen Schulen werden. Die Schulexpertin der GEW, Ilka Hoffmann, fordert daher bundesweit gültige Mindeststandards für den Quer- und Seiteneinstieg „Akzeptabel sind für uns als Gewerkschaft nur der Quereinstieg sowie gleichwertige Weiterbildungsmaßnahmen für Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger“, betont die Leiterin des Bereichs Schule beim GEW-Bundesvorstand; ein Vorbereitungsdienst oder ein dem zweiten Staatsexamen gleichgestelltes Zertifikat müsse die Voraussetzung bleiben, um in der Schule unterrichten zu dürfen.
„Die Bedingungen für Seiten-, Quer- und Umsteiger müssen so gestaltet werden, dass der Lehrerberuf attraktiv bleibt. Dazu gehört auch die gleiche Bezahlung für alle Lehrämter.“ (Ilka Hoffmann)
Einige Bundesländer setzen neben Quereinsteigern zudem auf die sogenannten Umsteiger – auf Gymnasiallehrer, die beispielsweise an Grundschulen eingesetzt werden, weil hier der Bedarf besonders groß ist. Auf diese Maßnahme greifen besonders Baden-Württemberg, Berlin und Sachsen zurück. In Berlin und Sachsen sei der „Markt bei den Gymnasiallehrern quasi leergefegt“, berichtet Ilka Hoffmann. Besonders bizarr sei die Situation in Baden-Württemberg. Hier absolvierten die Gymnasiallehrer eine Fortbildung zum Grundschullehrer mit dem Ergebnis, dass sie anschließend weniger verdienen. „Das heißt, der Dienstherr geht davon aus, dass man als Gymnasiallehrer nachqualifiziert werden muss, hält aber besoldungstechnisch weiterhin an den Unterschieden zwischen Grundschul- und Gymnasiallehrern fest“, kritisiert Hoffmann. Das Beispiel zeige, wie überholt die unterschiedliche Besoldungsstruktur im Schulsystem sei. „Die Bedingungen für Seiten-, Quer- und Umsteiger müssen so gestaltet werden, dass der Lehrerberuf attraktiv bleibt. Dazu gehört auch die gleiche Bezahlung für alle Lehrämter.“
Unterschiede in der Bezahlung macht auch NRW. Die Seiteneinsteiger sind nach Abschluss der pädagogischen Nachqualifikation zwar tarifbeschäftigt, werden aber eine Gehaltsstufe unter den regulären Grundschullehrerinnen und -lehrern eingruppiert (EG10 statt EG11). Die Landes-GEW fordert, die Regelungen für Quereinsteiger anzuwenden, d. h. einen berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst und eine entsprechend gleiche tarifliche Eingruppierung.
Unklar ist bislang, ob die ad hoc ausgebildeten Quereinsteiger auch im Lehrerberuf bleiben. Erfahrungswerte dazu gibt es kaum. Auf Nachfrage erklärten die zuständigen Ministerien bzw. Schulverwaltungen in Niedersachsen, NRW und Berlin (diese Länder haben in der vergangenen Jahren die meisten Quer- bzw. Seiteneinsteiger angeworben), dass über die Verweildauer oder Abbruchquoten keine Statistik geführt werde; auch die KMK hat dazu keine Zahlen.
„Die Unterrichtsbelastung für die Quereinsteiger ist zu hoch.“ (Dorothea Schäfer)
Die GEW-Landesverbände blicken mit einer Mischung aus Zuversicht und Skepsis in die Zukunft. „Wenn der Vorbereitungsdienst gestaltet ist wie ein Referendariat, dann ist das ein Weg, den wir als Gewerkschaft nur gutheißen können“, sagt der Vorsitzende der rheinland-pfälzischen GEW, Klaus-Peter Hammer. „Die Unterrichtsbelastung für die Quereinsteiger ist zu hoch“, gibt die Vorsitzende der NRW-GEW, Dorothea Schäfer, zu bedenken. Sie müsse im Interesse der neuen Lehrkräfte, aber auch der Kollegien reduziert werden. Schäfer schlägt zudem eine andere Berechnung des Personalschlüssels vor. So würden bei der Einstellung von vier Quereinsteigern vier Stellen angerechnet, obwohl faktisch nur drei Stellen besetzt seien, da die neuen Kolleginnen und Kollegen noch nicht zu 100 Prozent unterrichten.
Einen kleinen Erfolg konnte im Sommer die Berliner GEW vermelden. Im vergangenen Schuljahr betrug die Unterrichtsverpflichtung für Quereinsteiger in der Hauptstadt 19 Stunden in der Woche, im neuen Schuljahr müssen sie eine Stunde weniger unterrichten, ab dem Schuljahr 2019/20 ist eine weitere Reduzierung um eine Stunde geplant.