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Coronapandemie

„Notfalls unterrichte ich im Hinterhof“

Einrichtungen in sozialen Brennpunkten stellt die Coronapandemie vor besondere Herausforderungen. Ein Gespräch mit Franziska Böhmer (55), die Mathe, Kunst und Sport an der Hans-Fallada-Schule in Berlin-Neukölln unterrichtet.

„So wie im Moment unterrichtet wird, sind die Gesundheitsrisiken für Schüler und Lehrer zu hoch“, sagt die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. (Foto: imago images/Michael Weber)
  • E&W: Frau Böhmer, wie haben Sie die Schließung Ihrer Schule Mitte März erlebt?

Franziska Böhmer: Ich war zu der Zeit krank. Glücklicherweise war die Klassenlehrerin da und hat das Nötigste organisiert. Wir haben zunächst dafür gesorgt, dass die Kinder Arbeitsmaterialien mit nach Hause nehmen können. Das lief je nach Jahrgangsstufe unterschiedlich. Die Älteren, also die Zweit- und Drittklässler, können mit ihren Arbeitsheften schon gut alleine lernen, bei den Erstklässlern ist das schwierig. Denen habe ich keine Mathe-Hefte mitgegeben. Die sind gerade dabei, die Addition zu lernen. Das geht auf die Distanz schlecht, denn dann gewöhnen sie sich Fehler wie das Zählen mit den Fingern an, die ich ihnen später nur schwer wieder abgewöhnen kann.

  • E&W: Klappt das Selbstlernen überhaupt?

Böhmer: Wir hoffen natürlich schon, dass die Eltern oder die älteren Geschwister helfen, von denen viele ja auch unsere Schule besucht haben.

  • E&W: Inwieweit nutzen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeiten der digitalen Technik?

Böhmer: Damit ist meine Schule eigentlich sehr gut ausgestattet. Wir haben einen großen Computerraum und zwei kleine Computerräume. Es gibt eine engagierte Kollegin, die die Schule zu einer IT-Schule umgerüstet hat – zum Teil mit Geldern der Europäischen Union. Wir haben eine Lernwerkstatt, in der wir mit den Klassen regelmäßig in Zusammenarbeit mit dem freien Träger Life e. V. Projektwochen organisieren. In der Lernwerkstatt werden multimediale Medien wie die Lernplattform eXplorarium eingesetzt. Diese Plattform nutzen wir schulweit; über sie werden den Schülerinnen und Schülern Arbeitsmaterialien und Lernaktivitäten bereitgestellt. Die Zweit- und Drittklässler sind da schon recht fit. Für Mathe haben wir den Kindern für den „Hausunterricht“ die kostenlose Lern-App Anton und die BlitzrechnenApp empfohlen, mit der die Kinder zum Beispiel Kopfrechnen üben können. Wir arbeiten bei uns an der Schule im Fach Deutsch zudem mit dem Programm Antolin, einer webbasierten Lernsoftware zur Leseförderung. Alle Kinder unserer Schule haben einen Zugang zu diesem Programm, und die Klassenlehrerin kann über dieses mit ihnen chatten. Das hat sie natürlich in den vergangenen Wochen auch getan.

  • E&W: Und, ist das gut gelaufen?

Böhmer: Von den 21 Schülerinnen und Schülern unserer JüL*-Klasse haben gerade einmal zwei Kinder geantwortet.

  • E&W: Woran liegt das?

Böhmer: Von den 21 Kindern haben elf keinen Internetzugang. In manchen Familien gibt es vielleicht ein Smartphone – für sechs bis zehn Personen! Da ist ein Arbeiten mit einer Lernsoftware schlicht unmöglich. In manchen Familien gibt es zwar einen PC, der aber auch von mehreren Familienmitgliedern genutzt wird. Die Eltern müssen dann Computerzeiten zuteilen.

  • E&W: Wie bleiben Sie mit den Schülerinnen und Schülern dann in Kontakt?

Böhmer: Wir telefonieren viel mit den Eltern. Ich wurde von Kindern auch schon angerufen oder per WhatsApp kontaktiert. Das Grundproblem ist, dass wir einige Kinder haben, die aus Familien mit großer Schuldistanz kommen. Deren Eltern sind oft Analphabeten und können ihren Kindern beim Lernen nicht helfen.

  • E&W: Schuldistanz hängt also eng mit der Herkunft zusammen?

Böhmer: Nur bedingt. Schuldistanz ist oft gepaart mit Bildungsferne in den Familien, die wenig Teilhabe ermöglicht. Man muss dazu wissen, dass 98 Prozent in Familien leben, die einen Berlinpass haben. 96 Prozent haben einen Migrationshintergrund, der überwiegende Teil davon türkische oder arabische Wurzeln. Die Schuldistanz mit der sozialen oder ethnischen Herkunft zu begründen, wäre aber falsch. In den meisten Familien herrscht durchaus das Ideal, dass Kinder zur Schule gehen und etwas lernen sollen. Das merkt man auch in der derzeitigen Situation. Einige Eltern haben den Kindern sofort nach Beginn der Schulschließungen Hefte gekauft, eine feste Tagesstruktur eingerichtet, in der die Mädchen und Jungen auch lernen können. Sie gehen mit ihren Kindern jeden Tag raus, damit sie genug Bewegung an der frischen Luft haben. Sie machen also alles richtig.

  • E&W: Und die anderen?

Böhmer: Ich war dieser Tage auf Hausbesuch bei „meinen“ Kindern – natürlich unter Wahrung der physischen Distanz. Überall wurde ich freundlich empfangen. Viele Mädchen und Jungen sitzen den ganzen Tag vor dem Fernseher oder daddeln am Smartphone der Eltern irgendwelche Spiele. Ich bin auf Kinder getroffen, die drei Wochen lang die Wohnung nicht mehr verlassen hatten – die Eltern hatten Angst, dass sie sich draußen mit dem Coronavirus infizieren, von dem sie annehmen, dass es sich über die Luft überträgt.

  • E&W: Von Homeschooling kann also bei vielen Schülerinnen und Schülern nicht die Rede sein?

Böhmer: Ja. Eine Hälfte der Eltern tut, was sie kann, der fehlen allerdings oft sowohl die technischen Möglichkeiten als auch das Know-how, das akademisch gebildete Eltern haben. Die Eltern bemühen sich; auch die größeren Geschwister sind engagiert, das merkt man. Mit welchem Erfolg, werden meine Kolleginnen und Kollegen und ich aber erst sehen, wenn die Schule wieder geöffnet wird und der Unterricht fortgesetzt werden kann.

  • E&W: Sie ziehen also ein eher negatives Resümee?

Böhmer: Das würde ich so nicht sagen. Ich bin einerseits fatalistisch, weil ich davon ausgehe, dass eine Rückkehr zum regulären Unterricht noch eine ganze Weile nicht möglich sein wird. Andererseits habe ich aber auch Positives berichtet bekommen. In der Klasse gibt es zum Beispiel einen Jungen, der sozial und emotional immer auffällig war. Der genoss jetzt die ungeteilte Aufmerksamkeit, die er zu Hause bekam und ist regelrecht aufgeblüht. Sollte der Lockdown länger dauern, habe ich mir vorgenommen, einzelne Kinder daheim aufzusuchen. Notfalls unterrichte ich unter freiem Himmel im Hinterhof.

  • E&W: Wie stehen Sie in Kontakt mit Ihren Kolleginnen und Kollegen?

Böhmer: Wir haben eine WhatsApp-Gruppe, über die wir uns austauschen und über die auch Tipps und Links verschickt werden – zum Beispiel zur Seite des Basketballvereins Alba Berlin, der eine tägliche digitale Sportstunde anbietet. Das ist eine gute Sache, die aber aus den erwähnten Gründen für viele Schülerinnen und Schüler der Klasse, in der ich Sport unterrichte, nicht in Frage kommt. Außerdem haben wir einen internen Mail-Verteiler, über den Offizielles verschickt wird.

  • E&W: Um welche Kinder sorgen Sie sich besonders?

Böhmer: Um die Roma-Kinder. Die haben es eh schon schwer. Das Haus, in dem sie mit ihren Eltern wohnen, ist sozusagen ein sozialer Brennpunkt im sozialen Brennpunkt. Große Familien in kleinen Wohnungen, wenig Spielzeug und selten Internetzugang. Bei diesen Kindern sind die Struktur, die wir in der Schule anbieten können, und der Zugang zu Bildung besonders wichtig. In der Corona-Krise merkt man, dass viele Eltern in das alte Verhaltensmuster zurückfallen, was da heißt: Schule ist zwar wichtig, oft fehlt es aber an der konsequenten, erzieherischen Umsetzung dieser Haltung.

  • E&W: Welche berufliche Schlussfolgerung ziehen Sie aus dem Lockdown?

Böhmer: Dass Schule viel mehr ist als Wissensvermittlung, dass wir Lehrkräfte nicht nur Wissensvermittlerinnen und -vermittler sind und wie wichtig der physische Kontakt zu meinen Schülerinnen und Schülern ist. Er ist wichtig für die Kinder und ihre Lernprozesse, aber auch für mich persönlich.

* JüL: Jahrgangsübergreifendes Lernen. Die Klasse setzt sich aus Kindern der ersten, zweiten und dritten Jahrgangsstufe zusammen.

Franziska Böhmer (Foto: privat)