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Filmkritik

„Niklas geht es gut“

Regisseur Daniel Abma hat für „Im Prinzip Familie“ eine Wohngruppe im ländlichen Raum fast ein Jahr lang begleitet. Er zeigt drei professionelle Erziehende, die fünf Jungs das geben, was diese am dringendsten brauchen: ein Zuhause.

Der Film „Im Prinzip Familie“ porträtiert einfühlsam eine Einrichtung, in der drei pädagogische Fachkräfte mehr als nur ein Elternersatz für fünf Jungen sind, die von den Jugendämtern aus ihren Familien genommen wurden. (Foto: Bandenfilm/Johannes Praus)

Der verstörendste Moment des Films ist, als Niklas von seiner Erzieherin Antje Wagner und seinem Erzieher Max Gerecke erfährt, dass nun endlich eine Lösung für ihn gefunden ist und er im Sommer zu seinem Stiefvater ziehen kann. Anders als seine Mutter hatte deren Ex-Lebenspartner nämlich beständig und zuverlässig Interesse an Niklas gezeigt, am Väterprogramm der Kinderhilfeeinrichtung teilgenommen und sich um ihn gekümmert. Das Betreuungsteam ist unglaublich erleichtert, dass Niklas‘ Mutter nach monatelanger Verweigerung endlich in diesen Schritt eingewilligt hat. 

Doch wie reagiert Niklas, der gerade auch gehört hat, dass er seine Mutter künftig regelmäßig sehen und besuchen kann, weil sie ganz in der Nähe wohnt? Er zieht sich die Kapuze seines Hoodies über den Kopf und weint. Und als Wagner ihn endlich zum Sprechen bringt, stammelt er: „Aber ich wäre gerne die ganze Zeit bei der Mama.“

Jene Mama, die es auch nach fünf Jahren, die Niklas inzwischen in der Einrichtung lebt, nicht schafft, einen regelmäßigen Kontakt zum Betreuungsteam zu halten, die Verabredungen zuverlässig nicht einhält, die zu spät oder (meist) gar nicht kommt, die plötzlich keine Telefonnummer mehr hat (und deshalb für das Team nicht zu erreichen ist). Die es eben einfach nicht hinbekommt. Warum das so ist, erfahren die Kinobesucherinnen und -besucher nicht. Es spielt auch keine Rolle.

Die meisten Kinder sehnen sich nach Mama und Papa

In Daniel Abmas Dokumentarfilm „Im Prinzip Familie“ geht es vor allem um die Kinder und deren Betreuerinnen und Betreuer, die fest an der Seite ihrer Schützlinge stehen. Die sich Tag für Tag engagieren, um ihnen im idyllisch an einem See gelegenen Kinderhilfe-Haus Stabilität und Geborgenheit zu geben, Zuneigung, Anregung und Unterstützung. Die für sie kochen, sie zur Schule fahren, mit ihnen Fußball spielen, sie abends ins Bett bringen und sie trösten, wenn sie traurig sind. Fast wie eine richtige Familie, nur eben weit zuverlässiger und mit größerer Geborgenheit als die richtigen Familien dieser Kinder. Und doch sehnen sich die meisten von ihnen nach Mama und Papa – egal, was zuvor passiert ist.

So wie Kelvin, ein etwa zehnjähriger aufgeweckter Junge, der – aus Kamerun stammend – in einem Schlauchboot auf dem Mittelmeer zur Welt gekommen ist und dessen Lebenstrauma es ist, dass er nicht weiß, wo er hingehört. Seine überforderte Mutter hat er auf eigenen Wunsch verlassen, und doch will er sie in seinem Leben haben. In den Jahren seiner Abwesenheit haben die beiden allerdings ihre gemeinsame Sprache verloren. Während Kelvin akzentfrei auf Deutsch plaudert, hapert es bei ihr mit dem Deutschen; und Französisch hat Kelvin längst verlernt. Weil er nicht weiß, wo sein Platz ist, rastet er regelmäßig und ohne Vorwarnung aus. Auch, weil er in seiner Schule – die wohl irgendwo im Speckgürtel von Berlin liegt – von seinen Mitschülerinnen und -schülern regelmäßig rassistisch angegangen wird.

Ganz normale Menschen, die Großes leisten

Das Betreuungsteam, zu dem auch Sören Wagner gehört, hängt sich rein, kümmert sich, kämpft für die kleine Schar Jungs. Abwechselnd wirken die Betreuerinnen und Betreuer telefonisch oder persönlich auf die abwesenden Eltern ein, mahnen, pünktlich zu sein, fordern Zuverlässigkeit ein, stellen Bedingungen. Sie beraten sich mit dem Jugendamt, mit der Schule, zweifeln auch mal, etwa wenn Kelvins Schule eine vorübergehende Unterbringung in der Psychiatrie verlangt, strampeln sich ab und können doch die Eltern nicht ersetzen.

Diese Pädagoginnen und Pädagogen, die der Regisseur fast ein Jahr lang bei ihrer Arbeit begleitete, sind ganz normale Menschen; und doch leisten sie Großes – sie legen ihr Herzblut in das Wohlergehen der ihnen Anvertrauten, kämpfen für sie, lachen und weinen mit ihnen und lassen sie – wenn alles gut läuft – am Ende ziehen. Auch mal unter Tränen, das lässt sich nicht immer vermeiden.

Doch woher nehmen diese Männer und Frauen ihre Erfolgserlebnisse? Aus kleinen Siegen vermutlich, aus gelungenen Nachmittagen, aus fröhlichen Stunden, aus dem Wissen, dass die Entlassung eines Kindes nach jahrelanger Betreuung die richtige Entscheidung war, dann nämlich, wenn sie Monate später etwa hören: „Niklas geht es gut.“ 

Kinostart: 5. Juni 2025