Fotos: Gudrun Sach, Manfred Brinkmann
Ich bin Lehrerin für Deutsch und Geschichte am Gymnasium in Leonberg/Württemberg. Weil zwischen meinen beiden Aufenthalten als Lehrerin in Brasilien über zwanzig Jahre, der Mauerfall und etliche strukturelle Veränderungen der Auslandsschulen lagen, sind einige meiner Erfahrungen vielleicht symptomatisch.
Colégio Humboldt in São Paulo
Zum ersten Mal an eine Begegnungsschule, und zwar ans Colégio Humboldt in São Paulo, kam ich im Januar 1987. Brasilien befand sich damals gerade erst auf dem Weg aus der Militärdiktatur in die Demokratie. Eine Hinterlassenschaft der Militärs war die enorme Staatsverschuldung mit einer Inflationsrate von zwanzig Prozent im Monat bei meiner Ankunft – später wurden es deutlich mehr! Wir ADLK mit unserem Gehalt in Deutschland blieben von den Folgen weitgehend verschont; die finanzielle Kluft zu den brasilianischen Kollegen allerdings war enorm, besonders die Männer unter ihnen arbeiteten an zwei oder drei Schulen. Ein Wunder, dass die Beziehung zwischen uns wenigen deutschen und den vielen brasilianischen Kollegen trotzdem so gut war! Ich fand es leicht, Portugiesisch zu lernen, habe mir allein ein Häuschen in einer ganz normalen Wohngegend ohne besonderen Schutz gemietet und mich von der deutschen Kolonie eher ferngehalten. Auch deshalb, weil es damals noch Alt-Nazis in Südamerika gab und gerade erst der KZ-Arzt Mengele vor São Paulo ertrunken war, den ausgerechnet die Kindergartenleiterin des Colégio Humboldt versteckt hatte. Weil an der Schule bekannt war, dass ich in Deutschland Stadträtin für die Grün-Alternativen gewesen war, hatte ich Befürchtungen, die sich aber durchaus nicht bewahrheiteten. Im Gegenteil: Das Unterrichten in den kleinen Klassen hat mir großen Spaß gemacht, das Niveau im Fach Deutsch war gut, auch weil in einer Industriestadt wie São Paulo oft neue Schüler direkt aus Deutschland kamen. Besonders viel Spaß gemacht hat mir die Theater-AG. Die Hierarchie im deutschen Teil der Schule war flach, wir waren fast alle ADLK und blieben mindestens vier, fünf Jahre. Trotzdem blieb das Unbehagen, in einer Privatschule ausschließlich Kinder wohlhabender Eltern zu unterrichten. Weil ich das Brasilien außerhalb des Schulumfeldes erleben wollte und schon immer gern genäht habe, habe ich einmal in der Woche in einer Favela mitgeholfen, in der Näh-Gruppe der Kooperative „Touca“ – es war nur ein kleiner Einblick, aber wichtig für mich.
Auxiliadora do Uruapiara
Wahrscheinlich hat auch diese Erfahrung unter vielen anderen dazu beigetragen, dass ich nach fünf Jahren meinen Vertrag mit dem Colégio Humboldt nicht mehr verlängert habe. Trotzdem wollte ich gern in Brasilien weiter arbeiten, wo ich mich inzwischen sehr heimisch fühlte, allerdings nicht im reichen Süden des Landes, sondern im Amazonasgebiet, das ich von mehreren Reisen kannte. Ich ließ mich also von Baden-Württemberg beurlauben, was damals „aus arbeitsmarktpolitischen Gründen“ einfach ging, und lebte fünf Jahre lang von dem Geld, das ich als ADLK gespart hatte. Und zwar in Auxiliadora do Uruapiara, einem kleinen Dorf ohne Strom und Wasserhahn am Rio Madeira, einem südlichen Nebenfluss des Amazonas, nur mit dem Boot erreichbar. Die Bevölkerung besteht aus der typischen „Caboclo“-Mischbevölkerung – mit den indigenen Stämmen an den Nebenflüssen arbeitete ein brasilianisches Paar. Ich kannte das Dorf von mehreren Ferien her, hatte mich mit den Frauen angefreundet (die Männer sind in der Trockenzeit alle monatelang auf Goldsuche) und mit ihnen zusammen beschlossen, eine kleine Näh-Kooperative zu gründen, um die Familien von den durchreisenden Händlern unabhängiger zu machen. Am Anfang ging ich noch viel zu sehr wie in einer Stadt im Süden Brasiliens vor, besorgte Tische zum Zuschneiden (bis sich zeigte, dass die Frauen viel lieber auf dem Boden arbeiteten) und einen Raum, in dem wir alle zusammen nähten (bis sich herausstellte, dass alle Frauen zu Hause auf ihre Kinder aufpassen mussten und deshalb jede ihre Maschine bekam und mit nach Hause nahm). Solche Anfangsfehler klärten sich schnell.
Leben in Amazonien
Dafür gab es neue Aufgaben: Weil ein Arzt nur in der viele Bootsstunden entfernten Kreisstadt Manicoré erreichbar war, half ich am Anfang mit den von meinen Verwandten besorgten Medikamenten aus. Das war aber natürlich unsinnig, keine Hilfe zur Selbsthilfe. Deshalb haben der Salesianer-Pater, der die Gegend mit seinem Hausboot bereiste, und ich in den siebzig Dörfern, für die er zuständig war, Wahlen zu Barfuß-Ärzten organisiert und für diese dann Kurse, in denen sie sich einerseits ihre althergebrachten Lieblings-Heilkräuter gegenseitig erklärten und andererseits den Umgang mit fünf Basismedikamenten (von der deutschen Aktion Medeor) lernten. Das nächste Problem war das Trinkwasser, das erstens mit dem Quecksilber der Goldsucher verseucht war und andererseits von den Frauen einen 35 Meter hohen Abhang hochgetragen werden musste, bis uns eine Pumpe mit Solarenergie an einem sauberen Nebenfluss das Leben erleichterte. Bei meiner Ankunft in Auxiliadora hatte ich nicht damit gerechnet, in den Kampf für die Menschenrechte verwickelt zu werden. Und zwar, als drei der Gefangenen in Manicoré, die der Priester und ich immer besucht hatten, nach einem misslungenen Ausbruchsversuch wieder gefangen, in Handschellen gelegt und in einem Wald erschossen wurden – im Auftrag des Bürgermeisters, wie wir zusammen mit dem Bischof und einem Landtagsabgeordneten in Manaus vor Presse und Fernsehen denunzierten. Diese Situation war die einzige, in der ich in all den Jahren in Brasilien wirklich Angst hatte! (Kleine Anmerkung für Leute, die bei Brasilien sofort an Kriminalität denken: Mir ist in all den Jahren dort nie etwas passiert – aber diesmal hatte ich Angst vor einer korrupten Polizei.) Dieses Problem, sich für die Politik verantwortlich zu fühlen, haben wir bei der Arbeit mit den Jugendgruppen aufgegriffen, wo dann die Jugendlichen selbst der „Político honesto“, der ehrliche Politiker werden mussten. In Amazonien habe ich mich wieder darauf besonnen, dass ich gern male – als evangelisch Ausgetretene sogar katholische Heilige für die kleinen Kapellen dort – und so haben wir dann auch den „Drachen der Ungerechtigkeit“ für den „Grito dos excluidos“ bei der Parade am Nationalfeiertag gebastelt.