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„Unter Weißen“

Zu kurz gesprungen

Die Debatte über Rassismus in Deutschland wird stark von jener in den USA bestimmt. Das greift in vieler Hinsicht zu kurz.

Foto: Pixabay / CC0

2017 hat der Journalist Mohamed Amjahid ein Buch mit dem Titel „Unter Weißen“ herausgebracht, in dem er sich als „Man of Color“ bezeichnet, von seinen Erlebnissen mit Rassismus berichtet und die „Biodeutschen“ auffordert, sich mit ihren „Privilegien“ auseinanderzusetzen. Das theoretische Gerüst ist allerdings eher bescheiden. Rassismus wird definiert als „Ideologie, die besagt, dass bestimmte Menschen mit bestimmten äußerlichen Merkmalen weniger wert sind als andere“; als Privileg bezeichnet er „Voraussetzungen“, die „in die Lage versetzen, über sich, aber eben auch über andere Entscheidungen zu treffen“.

An dem Buch lassen sich mehrere Probleme aufzeigen, die für die hiesige Diskussion über das Thema relevant sind: Zunächst die Konzentration auf Ideologie und Sprache; eine Verschiebung der Rassismus-Diskussion (nach US-amerikanischem Vorbild) auf das Thema „(Haut-)Farbe“, wobei es ausschließlich um die persönliche Ebene geht; schließlich eine anhaltende Amnesie der Geschichte von Rassismus und Antirassismus in Deutschland.

Modell mit Schwächen

Dass Rassismus eine Einstellung sei, gehört in der Debatte zu den konstanten Vorannahmen, etwa in der Vorurteilsforschung des von Wilhelm Heitmeyer gegründeten Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Demnach wird Diskriminierung durch Einstellungen oder genauer Vorurteile bedingt. Dieses Modell hat erhebliche Schwächen. Historisch geht die Diskriminierung den Vorurteilen voraus. Der Philosoph Moses Mendelssohn fand dafür das Bonmot: Man bindet den Juden die Hände und danach wirft man ihnen vor, sie nicht zu benutzen. Es war die Praxis der Sklaverei, die eine Linie zwischen „schwarz“ und „weiß“ etabliert hat, die danach in „Rassen“-Theorien ihre – angeblich wissenschaftliche – Legitimation fand.

Auch die hiesige Migrationsgesellschaft wurde durch Diskriminierung strukturiert: In den 1960er-Jahren warb der Staat Arbeitskräfte an, um schwere, unqualifizierte Industriearbeit zu verrichten; Arbeit, die dann ganz selbstverständlich als „Ausländer-Job“ bezeichnet wurde. Der soziale Status hat sich dabei teilweise vererbt: Noch heute leben fast 30 Prozent der Bürger mit Migrationshintergrund in relativer Armut. Bei Vorurteilen handelt es sich daher vielmehr um „rassistisches Wissen“, das Benachteiligung erklärt und legitimiert. Das erklärt auch die Verbreitung und Hartnäckigkeit dieses Wissens. Rassismus ist als Apparat zu verstehen, indem sich Ausgrenzungspraxen und Wissen gegenseitig verstärken.

Nun würde der von Amjahid verwendete Begriff der Ideologie im klassisch-marxistischen Sinne ja eine „Materialität“ voraussetzen. Doch Ideologie im Sinne der Theorien von „Critical Whiteness“, auf die er sich beruft, meint nicht viel mehr als Einstellung. Mit „Privileg“ wird zwar eine strukturelle Seite angesprochen, doch die Definition bleibt unklar. Das ist in den USA nicht anders, wo ganze Reader zu „Privilege“ erscheinen, in denen nicht einmal erklärt wird, was mit dem Begriff gemeint ist. „Check your Privilege“ ist an US-Colleges eine Art Allheilmittel geworden, um das Auftreten sogenannter Mikroaggressionen zu verhindern. Das ist ein berechtigtes Anliegen. Allerdings muss man über erhebliche finanzielle Ressourcen verfügen, um diese Colleges besuchen zu können. Damit bekommt dieser „Check“ eine (Klassen-)Schlagseite, zumal, wenn „People of Color“ nur als Betroffene solcher Aggressionen auftauchen.

Hierarchisierung der Opfer

Die Übertragung solcher „Checks“ auf Deutschland führt dazu, dass „Weiß“ und „of Color“ zu Kategorien werden, die die Debatte über Rassismus dominieren. So wird zum einen eine Opferhierarchie etabliert, in der „weiße“ Personen südosteuropäischer oder russischer Herkunft ihre Erfahrungen kaum noch unterbringen können. Zudem wird ausgeblendet, dass Rassismus sich heute komplizierter artikuliert. 2016 etwa machte am Münchner Olympiazentrum ein junger Mann iranischer Herkunft Jagd auf „Araber“ und „Türken“. Darüber kann Rassismustheorie nicht schweigen. Ebensowenig wie über eine Polizei, die aus dem Skandal um den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) wenig gelernt hat, wie sowohl die Kontrollen von „Nafris“ („Nordafrikanern“) in der Silvesternacht 2016/17 in Köln wie der Versuch, den Täter des Anschlags von München als psychisch gestört und nicht als rechtsradikal zu qualifizieren, gezeigt haben.

Die Debatte über Rassismus in Deutschland besitzt erstaunlich wenig Kontinuität. So bekommt man bei der Lektüre des Buchs von Amjahid das Gefühl, vor ihm habe niemand über das Thema gesprochen. Wie aber wäre es ausgefallen, hätte er berücksichtigt, was längst gesagt wurde, etwa von Yüksel Pazarkaya, Dursun Akcam, Giorgos Tsiakalos, Haris Katsoulis, Ktaharina Oguntoye, May Ayim, Annita Kalpaka und Nora Räthzel, Siegfried und Margret Jäger, Rudolf Leiprecht, Paul Mecheril, Fatima El-Tayeb und anderen?

Amnesie des Antirassismus

Tatsächlich gibt es eine regelrechte Amnesie des Antirassismus in Deutschland. Diese macht sich auch bemerkbar, wenn in der Öffentlichkeit alle Jahre wieder die gleichen Phänomene beschrieben und beklagt werden, als würde das alles zum ersten Mal passieren. Abgesehen von der persönlichen Ebene (Was darf wer sagen? Wie äußere ich mich, wenn ich privilegiert bin? Wie gehe ich mit Gefühlen um, die Rassismuserfahrungen auslösen?) taucht Rassismus nur konjunkturell auf, wenn „etwas“ vorgefallen ist, und wird danach auch von progressiven Kräften vergessen. Da der Widerstand im Mainstream weiterhin hoch ist – wer möchte sich schon gerne damit auseinandersetzen? – scheint es zumal politisch nichts zu gewinnen zu geben.

Auch scheint unklar, was getan werden muss. So hat das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ eine höchst differenzierte „Anklageschrift“ vorgelegt, aber bei den konkreten Forderungen wird es sehr luftig: Deren Spannbreite reicht vom Rücktritt des hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) bis zum Bleiberecht für alle. Politisch würde es aber darum gehen, die materielle Seite stärker zu betonen, Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern, den rechtlichen Rahmen weiterzuentwickeln (etwa beim Staatsangehörigkeitsrecht) und die Institutionen in Richtung Vielheit zu öffnen. Das ist gar keine primär moralische Frage: Die Polizei braucht post-NSU nicht nur ein paar Maßnahmen, um mit Personen mit Migrationshintergrund „besser umgehen“ zu können, sondern eine Reform, damit sie in kommenden Fällen ihre Arbeit besser verrichtet. Insofern sollte das Argument gegen „Profiling“ – verdachtsunabhängige Kontrollen aufgrund äußerer Merkmale, siehe „Nafri“ – nicht bloß lauten, dass es Menschen verletzt, sondern auch, dass es sich um ein undifferenziertes, untaugliches Mittel der Polizeiarbeit handelt.

Institutionen sind immer Bereiche der Gesellschaft, in denen Macht ausgeübt wird – das reicht von der Polizei über das Krankenhaus bis zu Bildungseinrichtungen. Insofern sind diese und ihr Personal eine erste Adresse in der Auseinandersetzung mit Rassismus. Selbstverständlich ist auch der Schulbetrieb alles andere als diskriminierungsfrei. Das Problem ist nicht die Tatsache an sich, sondern dass nichts systematisch dagegen unternommen wird. Es gibt überwiegend keine Organisationsentwicklung im Hinblick auf die Vielheit der Gesellschaft, kein Training-on-the-Job, keine Supervision et cetera.

„Wir haben dafür weder die Zeit noch das Geld“, lautet einer der gängigen Einwände. Das Problem wäre aber gar nicht das Geld. All die Sonderprogramme „gegen“ Rechtsextremismus und Rassismus kosten viel, ohne besonders nachhaltig zu sein. Die Mittel wären da, was fehlt ist der Wille zur konsequenten Auseinandersetzung.