Zum Inhalt springen

9. November

„Wir haben auf den Tod gewartet“

Zeitgeschichte per App: Weil immer mehr Zeitzeugen der NS-Zeit sterben, schickt der WDR ihre Hologramme in Schulen. Via Augmented Reality werden virtuelle Inhalte mit einem von der Handykamera aufgenommenen realen Bild vermischt.

Zeitzeugen-App des WDR / Foto: imago images/Klaus W. Schmidt

Pokémon Go kannte Samira Sayaz natürlich: das Spiel, bei dem fiktive Figuren mit Hilfe der Handykamera überall in die reale Umgebung der Spielerinnen und Spieler eingeblendet werden. Aber dass einem so auch Zeitzeugen der NS-Zeit ganz nah kommen können, das war für die 19-jährige Kölner Abiturientin eine neue Erfahrung. „Es ist nicht so, als würde man einfach ein normales Video schauen oder einen Text lesen – es werden einfach viel mehr Emotionen rübergebracht“, sagt Sayaz nach ihrer virtuellen Begegnung mit der 89-jährigen Anne Priller-Rauschenberg.

Möglich gemacht hat das eine App, die der WDR Anfang 2019 veröffentlichte. Sie ermöglicht, dass Schülerinnen und Schüler sich Zeitzeugen als Hologramme ins Klassenzimmer holen. Die Kamera eines Handys oder Smartphones wird auf einen freien Platz gerichtet – und dort erscheinen Interviews mit Menschen wie Priller-Rauschenberg. „Dieser Staub, der dann aufwirbelte, das war die Hölle auf Erden – ein Inferno“, erzählt sie von ihrer Kindheit in Köln, die durch die Luftangriffe während des Zweiten Weltkriegs geprägt war – und vor allem durch die Angst im Bunker: „Wir haben auf den Tod gewartet.“ Dazu passend ist mal das Dröhnen der Flugzeuge, mal das Prasseln und der Funkenflug nach den Einschlägen der Bomben zu hören. „Viel emotionaler und besser nachzuvollziehen“ seien die Berichte, sagt Sayaz.

„Augmented Reality“ (AR) heißt diese Form der Vermischung virtueller Inhalte – in diesem Fall die Zeitzeugen-Interviews – mit dem von der Handykamera aufgenommenen Bild der realen Umgebung. Neben Priller-Rauschenberg aus Köln erzählen auch Vera aus London und Emma aus Leningrad eindringlich von ihren Ängsten, von Brandbomben und Beschuss, der Belagerung und dem Hunger.

„Solche Angebote haben sicher ein großes Potenzial, aber sie bergen auch Herausforderungen.“ (Christian Bunnenberg)

Für den WDR war die Entwicklung der App zunächst ein Testlauf – der mittlerweile ausgeweitet wurde. Seit Juni gibt es neben den drei Erinnerungen der Kriegskinder weitere Zeitzeuginnen: Jacqueline van Maarsen und Hannah Goslar waren enge Freundinnen von Anne Frank, die aus Amsterdam deportiert und im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde. Ihre Freundinnen berichten in der App jetzt von ihrer Zeit mit Anne Frank und eigener Verfolgung. „Franks beste Freundinnen sprechen heute für die, die es nicht mehr können – um zu erinnern und wachzurütteln“, heißt es beim WDR. 80 Jahre nach Kriegsbeginn und 81 Jahre nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 gebe es immer weniger Überlebende, die aus eigener Erfahrung die Zeit vor 1945 schildern können. Der WDR wolle mit der App -„Geschichte für nachfolgende Generationen bewahren“, erklärt -Intendant Tom Buhrow.

„Solche Angebote haben sicher ein großes Potenzial, aber sie bergen auch Herausforderungen“, sagt Christian Bunnenberg. Damit meint der Geschichtsdidaktiker an der Ruhr-Universität Bochum beispielsweise, dass Nutzerinnen und Nutzer vom Eintauchen in die virtuelle Welt emotional überfordert sein könnten. So gebe es durchaus die Gefahr, dass die seriöse Geschichtsvermittlung bei manchen Angeboten eher eine Nebenrolle spiele, so Bunnenberg: „Man setzt auf ästhetisch-emotionale Überwältigung und löst diese auch nicht auf.“

Bei der WDR-App ist das nicht so: Hier sorgen Verfremdungen wie eingespielte Geräusche oder virtuelle Effekte wie durchbrausende Flugzeuge dafür, dass der Inszenierungscharakter deutlich wird. Und wenn Emma von der eisigen Kälte in Leningrad erzählt, rieseln die Schneeflocken. Für Historiker mag das Kitsch sein – Sayaz und die anderen Schüler des Genoveva-Gymnasiums fanden es „gut gemacht“. Hier müsse, sagt Bunnenberg, guter Fachunterricht ansetzen und zeigen, dass jede Darstellung der Geschichte – also auch AR- und Virtual-Reality-Angebote – eben keine Abbildung des Vergangenen ist: „Geschichtsunterricht muss den Konstruktionscharakter von Geschichte offenlegen.“

Die App „WDR AR 1933 - 1945“ kann kostenlos bei iTunes (für iPhone) und im Playstore (für Android) heruntergeladen werden.