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Corona-Krise

Wir fügen uns soweit wohl

„Die Maßnahmen sind notwendig. Die Maßnahmen wirken. Die Maßnahme. Ich denke dabei an Bertolt Brecht. Wir werden uns unseres eigenen Verstandes bedienen.“ Ein Essay.

GEW-Vorstandsmitglied Daniel Merbitz (Foto: Kay Herschelmann)

Vom Bedürfnis, Fragen zu stellen. „Wir befinden uns soweit wohl“, sagte der von mir sehr geschätzte Schriftsteller Volker Braun in einem Interview 1994, im Nachhall zur Wiedervereinigung und des Sich-Einrichtens in einer neuen Gesellschaft. Heute darf man diesen Satz abwandeln: „Wir fügen uns soweit wohl.“ Und dies in trauter Burgfriedeneinigkeit, geschmiedet aus nicht unberechtigter Angst vor dem Großen Virus. Und die Geschwindigkeit der Infektionsraten hält stand mit dem Grad des Abgebens der Freiheit. Lautet die Frage des mörderischen Virus an uns in diesen Tagen, Wochen, Monaten: Freiheit oder Leben? Das Geld-oder-Leben-Mantra der Räuber.

Wir wollen und werden uns dem aber nicht  ergeben. Und die Gesellschaft hat sich – und dies ist beruhigend - für das Überleben der Schwächsten, der Alten, der Risikopatienten und damit gegen die Ökonomie-Interessen entschieden.  Das zügige Aufspannen eines Rettungsschirms in der Corona-Krise und das schnelle Agieren - meistens von Süd nach Nord – ist richtig gewesen, um die Verbreitung des Großen Virus zu verlangsamen, um Leben zu retten.

Das Große Virus hat uns Fragen gestellt, die Großen Fragen. Jeden Tag werden Antworten gesucht.

Und doch beschleicht mich als Freigeist und Querdenker eine seltsame Unruhe. Unruhe über die Geschwindigkeit mit der Grundrechte eingeschränkt werden. Bürgerrechte, Freiheitsrechte, Grundwerte werden in ganz Europa dem wichtigen Gesundheitsschutz untergeordnet. Grenzüberschreitend werden Grenzen geschlossen. Geschlossene Gesellschaften. Kein Luft mehr ran lassen. Abschottung. Schlagbäume runter. Ängste allerorten. Es wird endlich Zeit, nun  Fragen zu stellen, auch und gerade, wenn die Meinungsumfragen die Regierenden in unbekannte Höhe schnellen. Das Große Virus hat uns Fragen gestellt, die Großen Fragen. Jeden Tag werden Antworten gesucht.

Verordnungen und Allgemeinverfügungen – das Regierungsinstrument in diesen Wochen. Die Stunde der Exekutive, so die auf den verfassungsrechtlichen Notstand bezogene Behauptung eines früheren Bundesinnenministers. Die Notstandsgesetze sind (noch) nicht zur Anwendung gebracht worden, da gibt es zum Glück noch ein paar Hürden. Es regiert das Infektionsschutzgesetz, ein Gesetz, welches in Vor-Corona-Zeiten fast nur den Expertenkreisen ein Begriff oder ein Halbsatz in Polizeirechtsvorlesungen war. Das Große Gesetz. Die Ermächtigungsgrundlage - so nennen wir Juristen das Instrument der Verlagerung von Rechtssetzungskompetenz von der Legislative auf die Exekutive – des Großen Gesetzes ist umfassend. Nahezu das gesamte Leben kann über Rechtsverordnungen und Allgemeinverfügungen geregelt werden.

Das Große Gesetz

Das Große Gesetz ist am Zug. Ich denke dabei an die Notverordnungen der Weimarer Republik. Wohlwissend, dass die Zeiten nicht direkt vergleichbar sind. Es waren andere Zeiten. Wenn man den philosophischen, juristischen und politischen Bedenken hinsichtlich des Großen Gesetzes entgegenhält, es sei ja alles nur befristet, dann erinnere ich eine Verordnung des Reichspräsidenten von 1922, um den Reichsbahnerstreik zu verhindern. Dieses befristete Instrument verfolgt uns in der juristischen Debatte bis heute, wurde es als Begründung für das immer noch herrschende Streikverbot der Beamtinnen und Beamten herangezogen, zuletzt 2018 durch das Bundesverfassungsgericht.

Da hat Karlsruhe die nur neun Tage gültige Notverordnung des Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) vom 1. Februar 1922, die den Streik der Eisenbahner der Deutschen Reichsbahn verbietet, gestützt auf den berüchtigten Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung, als Begründung für einen eigenständigen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums herangezogen und zu einer in der „Staatspraxis der Weimarer Republik begründete Traditionslinie“ stilisiert. Kurzatmig war also diese Notverordnung  nicht. Der lange Atem der Geschichte. Die Nach-Folgenden, die Nach-Denkenden, die Nach-Verantwortlichen werden die Folgen des Großen Virus einschließlich der Anwendung des Großen Gesetzes erleben.

Und dies ist das Gefährliche für eine Gesellschaft im Krisenmodus. Wer drückt den Knopf beim Großen Gesetz und schaltet damit die Exekutive-Kompetenzen an?

Und wenn man in der Tageszeitung (LVZ, 9. April 2020) liest, dass die Polizei die Verbote mit viel Aufwand überwacht und geschrieben steht „Nicht selten bekommt sie dabei Hilfe von Bürgern, die Verstöße gegen die Kontaktsperre melden“, dann wird einem bei dem Begriff „Hilfe“ Angst und Bange. Als Kind hätte man „Verpetzen“ gesagt, die Zeitung adelt das zu „Bürgerhinweisen“. Es gibt noch schlimmere Worte. Dies kommt mir  wie ein böser Nachklang aus einer fast so fernen Zeit  vor. Diese Eifrigkeit. Ungerechter Vergleich, mag mancher meinen; Fragen, Hinterfragen, sollte wenigstens erlaubt sein.

Die Aktivisten des Bündnisses „Seebrücke“  haben symbolisch ein paar Schuhe auf den Marktplatz einer Kleinstadt bei Leipzig abgelegt, als Protest gegen die unmenschlichen Bedingungen ausharrender Flüchtlinge in den griechischen Lagern, und jetzt müssen sie lesen, dass nun geprüft wird, „inwieweit Verstöße gegen die Allgemeinverfügung des Freistaates zu den Ausgangsbeschränkungen vorliegen“. Bußgelder und Strafen drohen für den kleinen Protest. Eine Gesellschaft im Fieber. Ausgelöst durch das Große Virus. Manche verlieren das Augenmaß bei der Anwendung des Großen Gesetzes.

Und dies ist das Gefährliche für eine Gesellschaft im Krisenmodus. Wer drückt den Knopf beim Großen Gesetz und schaltet damit die Exekutive-Kompetenzen an? Der Souverän. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, ein standardmäßig in der BRD immer noch zu hörender wie umstrittener Satz eines bekannten Staatsrechtlers: Carl Schmitt, der Komplize des Naziregimes ("Der Führer schützt das Recht").

Seltsamer Beigeschmack

Den Schalter für das Große Gesetz hat im Jahr 2020 der Bundestag betätigt, indem er „die epidemische Lage von nationaler Tragweite“ festgestellt hat. Durch Beschluss. Die Entäußerung der Legislativkompetenz ist also von der Volksvertretung legitimiert. Formal und juristisch und politikwissenschaftlich also alles sauber. Ich erahne schon Festschriften dazu. Aber es gibt auch schon erste Kritik am Großen Gesetz, denn hier sind ewige Verfassungsgrundsätze tangiert, wie die demokratischen Grundgedanken und die republikanisch-parlamentarische Staatsform einschließlich der Gewaltenteilung. Es bleibt ein seltsamer Beigeschmack.

Man setzt sich dem Vorwurf aus, man sei unsolidarisch, wenn man dies hinterfragt. Noch sorgenvoller stimmt mich das Verstimmen der wichtigen Stimmen. Das Schweigen der sonst lauten Mahner. Nur wenige sind zu hören, Heribert Prantl, mutig, früh mit der Kritik dabei („Tausche Freiheit gegen Sicherheit und Gesundheit“). Viele Bürgerbewegte der Friedlichen Revolution schweigen wie auch Intellektuelle. Es gibt nicht viele kritische Stimmen in den Parteien und Verbänden. Möglich, dass sie mit  allem einverstanden sind. Die Einsicht in die Notwendigkeit – dies ist die Definition von Freiheit bei einem Klassiker der Philosophie, Friedrich Engels, der sich damit auf einen anderen Philosophen, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, bezog. Vielleicht sind sie aber auch nur ratlos in diesen Zeiten. Man kann sagen: Augen zu und durch. Oder: Augen geradeaus. Staatsräson. Abmarsch.

Wir brauchen jetzt einen Großen Runden Tisch der gesellschaftlich relevanten Gruppen.

Wir werden den Ausweg finden. Auch wenn es schwer wird. Es gelten Ausgangsbeschränkungen, die in zwei Freistaaten noch strenger sind. Freie Staaten. Ausgangsbeschränkungen. Das schicke und moderne Wort für Ausgangssperren. Die Stunde der Worterfinder und Übertüncher. Reisefreiheit, Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit – diese Worte klingen wie aus einer anderen Zeit.  Alles weg. Keine Chance sich gegen Gesetzesprojekte zu wehren mit Demonstrationen. Stattdessen: Polizeikontrollen, Straßensperren, Bußgelder, Strafandrohungen. Doch es gibt einen ersten Lichtstreif. Das Bundesverfassungsgericht hat einem pauschalen Versammlungsverbot vorsichtig eine Absage erteilt:  Die Stadt Gießen muss nun, nach einem kompletten Verbot einer Versammlung, erneut darüber entscheiden, ob die Durchführung der angemeldeten Versammlungen von bestimmten Auflagen abhängig gemacht oder verboten wird.

Angst vor dem Virus. Angst vor dem Leiden. Angst vor uns. Alles keine guten Berater. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz schon. Ihn müssen wir weiter zu Rate ziehen. Wir brauchen jetzt einen Großen Runden Tisch der gesellschaftlich relevanten Gruppen.

Republik der Virologen

Nach der Bonner kam die Berliner Republik. Jetzt haben wir die Republik der Virologen. Wir schauen heute das Journal und die Themen, lauschen den Zahlen der weit entfernten Universität, blicken in die zuversichtlichen und zugleich ernsten Mienen der Minister, versuchen bei der Kanzlerin zwischen den Zeilen zu lesen, aus erlernter DDR-Tradition, sehen die Mahnungen in den Gesichtern der Virologen eingeschrieben. Die Maßnahmen sind notwendig. Die Maßnahmen wirken. Die Maßnahme. Ich denke dabei an Bertolt Brecht. Wir werden uns  unseres eigenen Verstandes bedienen. Wir  haben noch die Kraft dazu auch zwischen Schichtdienst und Homeoffice und Homeschooling.

Erstaunlich, was so alles wie nebenbei im Verordnungswege abgeräumt wird. Bislang meistens zum Glück nur befristet, aber wer weiß. Das Arbeitszeitgesetz, über hundert Jahre umkämpft, wird mit einer breiten Verordnungsermächtigung versehen, zentrale Errungenschaften der Arbeiterbewegung temporär geschleift. Die Bundesregierung erlaubt bis Ende Juni 2020 die Ausweitung der täglichen Arbeitszeit auf zwölf Stunden und die Verkürzung der Ruhezeiten auf neun Stunden für systemrelevante Tätigkeiten.

Ein Hohn: erst jetzt die Systemrelevanz zu erkennen. Der Dank: Arbeitszeitverlängerung.

Systemrelevant. Vom Herstellen, Verpacken einschließlich Abfüllen, Kommissionieren, Liefern an Unternehmer, Be- und Entladen und Einräumen von  Waren des täglichen Bedarfs über den medizinischen Bereich bis zur Sicherstellung von Geld- und Werttransporten und Bewachung von Betriebsanlagen. Ein Hohn: erst jetzt die Systemrelevanz zu erkennen. Der Dank: Arbeitszeitverlängerung. Nicht wenige sind in den genannten Branchen schlecht bezahlt und ächzen unter den harten Arbeitsbedingungen.

Ich möchte ermutigen, anregen, mahnen. Wir sind mündige Bürgerinnen und Bürger. Wir sind Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gekleidet in Solidarität und Großmut. Nicht uniformiert im Denken. Nicht selbstgewiss. Aber optimistisch. Und mit dem Mut versehen, Fragen zu stellen.