Zum Inhalt springen

Kita des Jahres

„Wir denken uns nichts mehr für die Kinder aus“

Im Familienzentrum Ludwig-Uhland-Straße im hessischen Maintal bestimmen die Kinder das Programm. Ziel ist, die Kleinen zu stärken – und auch deren Eltern. Dafür ist die Einrichtung zur „Kita des Jahres 2018“ gekürt worden.

Fotos: Christoph Boeckheler

Weiße Flöckchen aus Rasierschaum fliegen durch die Sommerluft, klatschen auf die Terrassenplatten, bleiben an der Holzbank kleben. „Ahhh“, ruft Lara. Die Fünfjährige drückt auf die Dose, reibt sich bergeweise Schaum auf den nackten Bauch – und kichert fröhlich. Ein paar Schritte weiter schüttet der dreijährige Kerem im Schatten eines Kastanienbaums farbiges Wasser aus Eimern in eine Gießkanne um – und wieder zurück. Ein bisschen schwappt immer daneben, auf der Erde bilden sich Pfützen. Der Junge taucht einen Stock hinein, schmiert damit Matsch auf ein Bobbycar. Erzieherin Kathrin Weber beobachtet ihn. „Viele Dinge übersieht man im Alltag leicht“, erklärt sie. „Wir gucken ganz individuell auf jedes Kind.“ Mit Erfolg. Das Bundesfamilienministerium hat das Familienzentrum Ludwig-Uhland-Straße in Maintal gerade als „Kita des Jahres“ ausgezeichnet. Gegen 1.400 Bewerbungen konnte sich die kommunale Einrichtung in der Nähe von Frankfurt am Main  durchsetzen. Die Jury lobte vor allem die „vielfältigen Beteiligungsmöglichkeiten“ für Kinder und Eltern.

Seit über 25 Jahren leitet Gabriele Steltner-Merz die Einrichtung, zu der auch ein Hort gehört, und hat Schritt für Schritt neue Ideen umgesetzt. Nun stehen Fragen im Mittelpunkt wie: Was kann jedes einzelne Kind besonders gut? Und: Welche Themen beschäftigen es gerade? „Das ist Arbeit“, betont Steltner-Merz, „das muss man richtig lernen.“ Nur durch Bücher sei so etwas schwierig. Deshalb bleibt die Kita jedes Jahr eine Woche lang geschlossen, damit sich die Kolleginnen und Kollegen weiterbilden können. Das Team reist – bezahlt aus eigener Tasche – regelmäßig in andere Länder, um sich Tipps für die pädagogische Arbeit zu holen. Zum Beispiel nach England, Finnland – oder Reggio Emilia in Norditalien. „Das Mekka für Pädagogen“, so die Leiterin. „Die ganze Stadt lebt für ihre Kinder.“ In Reggio Emilia herrscht die Überzeugung, dass Kinder ihre Welt selbst entdecken und verstehen sollen. Die Kita in Maintal folgt diesem Ansatz.

Schon vor Jahren hatte die Leiterin festgestellt, dass die Sozialstruktur des Stadtteils, aus dem die Kinder überwiegend kommen, eine neue Arbeitsweise erforderte. In dem kleinen Gebäude wuseln 140 Mädchen und Jungen aus 36 Nationen umher, neun von zehn haben einen Migrationshintergrund. Viele Familien leben in Sozialwohnungen, sprechen kaum Deutsch, haben traumatische Fluchterfahrungen hinter sich. „Sie haben keine sozialen Netzwerke“, berichtet Steltner-Merz. Viele Probleme bestimmten ihren Alltag. Früher rannten die Mädchen und Jungen wild durch die Kita, konnten kaum stillsitzen, sich schlecht konzentrieren. Schnell wurde klar: „Die Eltern geben die Kinder hier ab, und wir betreuen sie. Das funktioniert so nicht.“ Die Pädagogin kam zu dem Schluss: „Wir müssen unseren Blick auf die Kinder verändern.“ Und: „Wir müssen größer denken, die Familien einbeziehen und stabilisieren.“

„Wir arbeiten nur noch mit den Ressourcen der Kinder.“ (Gabriele Steltner-Merz)

In einem dreijährigen Verfahren eignete sich das Team den sogenannten neuseeländischen Ansatz an: Das Konzept zielt darauf ab, die Mädchen und Jungen „wertfrei“ zu beobachten, ihre Interessen zu entdecken und individuelle Angebote zu entwickeln. „Wir arbeiten nur noch mit den Ressourcen der Kinder“, erklärt Steltner-Merz. „Wir denken uns nichts mehr für die Kinder aus, haben uns von festen Angeboten verabschiedet.“ In die Analysephase sind alle Kolleginnen und Kollegen eingebunden. Das Team überlegt gemeinsam für jedes Kind, welche pädagogischen Impulse sinnvoll sind. Oft entwickeln sich daraus Projekte, welche die Kinder viele Monate beschäftigen. Ein Junge, der neu in der Kita war, weinte zum Beispiel sehr viel. Das habe die anderen Kinder beschäftigt, berichtet die Pädagogin.

Daraus entstanden Fragen: Warum weint man überhaupt? Woher kommen die Tränen? Oder „die Sache mit der Angst“. Das Projekt richtete sich an Flüchtlingskinder, die so ihre Erfahrungen bewältigen konnten. Aber nicht nur sie: „Alle anderen Kinder haben auch Ängste.“ Die Mädchen und Jungen fragten sich: Woher kommt die Angst? Was macht sie? Ali weiß: „Die Angst sitzt im ganzen Körper.“ Er hat ein Bild davon gemalt: ein Männchen, das überall mit dunklem Filzstift überkritzelt ist. Eine Psychologin betreute das Projekt, finanziert von der Stadt. So lernten die Kinder, dass Angst auch gut ist – und wie man sie loswerden kann.

Ob Tod oder Trennung, Wind oder Wald: Die Kinder bestimmen die Themen. Mal stapfen sie gemeinsam übers Feld, pflücken Erdbeeren, kochen auf einem Campingkocher Marmelade – und verputzen danach Brote mit dicker Marmeladenschicht. „Es ist völlig egal, welches Thema man aufgreift“, betont die Leiterin. „Wichtig ist, dass es in die Tiefe geht.“ Die Erzieherinnen und Erzieher lieferten keine fertigen Lösungen, sondern stellten Fragen. Die Kinder sollen eigene Ideen entwickeln und lernen, wo sie Antworten finden. Bei einem Ausflug zum Orthopäden erfahren sie, warum Menschen im Alter kleiner werden. Der Zahnarzt erklärt, warum die Zähne ausfallen.

„Wir schöpfen immer alle Töpfe aus, arbeiten mit diversen Stiftungen zusammen.“

Die Kita hat ein halboffenes Konzept. Die Kinder haben feste Gruppen, können sich aber frei im Haus bewegen, ihre Freunde besuchen, in die Bibliothek gehen oder in den Bewegungsraum. Viele Mädchen und Jungen in der Einrichtung seien „nicht sicher gebunden“, so die Pädagogin. Deshalb sei es wichtig, dass sie feste Ansprechpartner haben. Das pädagogische Stammteam besteht aus 16 Fachkräften – Vollzeit und Teilzeit – plus Leitung. Hinzu kommen eine Psychologin, eine Sprachexpertin – und viele Azubis. „Es ist seit Jahren ein großer Zugewinn für uns, dass wir unser eigenes Personal ausbilden“, sagt die stellvertretende Kita-Leiterin, Tina Knorr.

Eine pädagogische Vollzeitkraft ist rechnerisch für zehn Mädchen und Jungen zwischen drei und zehn Jahren zuständig. Steltner-Merz betont, dass sich alle enorm einsetzten. „Alle arbeiten immer über 100 Prozent, bekommen dafür keinen Euro mehr.“ Erzieherin Weber berichtet, dass sie während der Arbeit permanent gefordert sei. Jeden Morgen koche sie sich einen Kaffee, der bis zu ihrem Feierabend kalt geworden ist. Und trotzdem: „Ich will hier nicht mehr weg.“ Sie finde es toll, so zu arbeiten, sagt Weber: Zu schauen, was für jedes Kind gut sei, es so zu nehmen, wie es sei. Die Erzieherinnen besuchen nach Möglichkeit auch jedes Kind zu Hause, sprechen viel mit den Eltern.

Ziel der Maintaler Einrichtung ist es, die Kinder zu stärken. Steltner-Merz ist überzeugt: „Dafür müssen wir auch die Eltern stärken.“ Deshalb wurde das Haus zum Familienzentrum umgebaut. Ohne zusätzliche Mittel, betont die Leiterin. „Aber wir schöpfen immer alle Töpfe aus, arbeiten mit diversen Stiftungen zusammen.“ Wenn die Mütter und Väter montags ihre Kinder bringen, können sie direkt ins Elterncafé weitergehen. Dort gibt es Tee und Frühstück, Erzieherinnen und Erzieher sprechen mit ihnen über die Mädchen und Jungen oder das Bildungssystem, je nach Interesse. Auch kostenlose Deutschkurse gehören zum Angebot. Dabei fahren etwa alle zusammen ins Schwimmbad, lernen, wie sie mit dem Bus dorthin kommen und was es zu beachten gilt. „Die Chancen stehen gut, dass sie später auch mal mit ihren Kindern hingehen“, betont die Pädagogin.

Bei der Preisverleihung hieß es in der Laudatio, die Einrichtung habe eine besondere Sensibilität entwickelt „für Schwache, für Fremde und für Menschen, die nicht aus diesem Land kommen“. Klar freut sich Steltner-Merz über so viel Lob. Aber eigentlich, sagt sie, wolle sie immer nur gute Arbeit machen. Gerade hat sie wieder mal einen Brief bekommen, von Eltern, die aus Afghanistan stammen: Ihre Tochter habe jetzt Abi gemacht, „ohne euch wäre das nicht möglich gewesen“. In solchen Momenten weiß die Pädagogin, dass sich der Einsatz lohnt: „Alles ist gut.“